„Sozialrecht setzt Menschenrechte um“

Wie Rechtsanwältin Anna Gilsbach vom Völkerrecht zum Sozialrecht kam

Anna Gilsbach im Interview | März 2021

Portraitfoto Anna Gilsbach

Anna Gilsbach

Die Juristin Anna Gilsbach (38) hat in ihrem beruflichen Werdegang schon vieles hinter sich: In Regensburg, Prag und Amsterdam hat sie studiert. In Amsterdam machte sie einen Master-Abschluss (LL.M.) im Völkerrecht. Ihr Rechtsreferendariat absolvierte sie danach unter anderem beim Sozialverband VdK, in der Zentrale des Auswärtigen Amts in Berlin und in einem Projekt der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in La Paz (Bolivien). Dann arbeitete sie als Referentin für Menschenrechte und Internationales beim Deutschen Anwaltverein. Für zwei Jahre ging sie dann auf die Theaterbühne – als „Expertin des Alltags“ war sie (Laien-)Darstellerin in einer Produktion zu Hitlers „Mein Kampf“ in der renommierten Theatergruppe Rimini Protokoll (siehe hier und siehe hier).

 

Seit 2015 ist Anna Gilsbach Rechtsanwältin und seit 2019 auch Fachanwältin für Sozialrecht. Sie ist in der Kanzlei dka in Berlin tätig.

 

Netzwerk Sozialrecht: Wie sind Sie zum Sozialrecht gekommen?

Gilsbach: Ich habe mich bereits während des juristischen Studiums für das Öffentliche Recht, Verwaltungsrecht und die Grund- und Menschenrechte interessiert. Ich meine: Durch Sozialrecht werden Menschenrechte umgesetzt. Es geht um das Recht auf Wohnen, auf Nahrung, Gesundheit und Menschenwürde. Das ist die Basis für das Leben schlechthin und die Voraussetzung auch für politische und kulturelle Teilhabe. Um das alles geht es im Sozialrecht. Es ist für mich eine Herausforderung, solche existenziellen Fragen für Menschen zu klären. Das ist anspruchsvoll – und wichtig.

Netzwerk Sozialrecht: Wo konkret macht sich das bemerkbar?

Gilsbach: Zum Beispiel bei der monatelangen Debatte, ob es für die FFP2-Maskenpflicht für Hartz-IV-Empfänger*innen einen Zuschlag geben soll. Da wurde teilweise ernsthaft eingewandt, dass ein Zuschlag nicht notwendig sei, da die kulturellen Einrichtungen geschlossen seien, müssten dafür ja keine Aufwendungen getätigt werden und deshalb könnte der notwendige Maskenkauf eben doch selbst finanziert werden.

Netzwerk Sozialrecht: Oder die Frage der Finanzierung eines Laptops für Kinder von Hartz-IV-Empfänger*innen?

Gilsbach: Der Einwand, der Hartz IV beziehende Elternteil habe ein Smartphone, das müsse ausreichen, liegt auf einer ähnlich verwerflichen Linie. Er wurde von Jobcentern aber teilweise vorgebracht. Strukturelle Benachteiligung von Kindern von Hartz-IV-Empfänger*innen darf nicht sein. Ich bin erleichtert, dass einige Landessozialgerichte dieser Sichtweise entgegengetreten sind. Durch Eilverfahren, die bekanntlich im Sozialrecht doch mehrere Wochen dauern, konnte das erreicht werden. Und seit dem 1. Februar gibt es ja auch eine Weisung der Bundesagentur für Arbeit, wonach die Jobcenter für Schüler*innen einen Zuschuss für digitale Endgeräte zahlen müssen, wenn diese nicht von der Schule zur Verfügung gestellt werden (siehe hier).
Der Staat sollte stärker in Mittel für Homeschooling investieren und sich nicht nur an Unternehmen zu deren Stützung beteiligen.

Netzwerk Sozialrecht: Was haben Sie nach der juristischen Ausbildung gemacht? Haben Sie gleich im Sozialrecht angefangen?

Gilsbach: Nein, ich habe einen Master-Abschluss im Völkerrecht gemacht. Danach war ich einige Jahre beim Deutschen Anwaltverein (DAV) und habe dort als hauptamtlich Beschäftigte in der Abteilung Menschenrechte und Internationales gearbeitet. Ich habe Stellungnahmen zu aktuellen politischen Vorhaben und Debatten verfasst und Veranstaltungen organisiert, den Menschenrechtsausschuss des DAV betreut und Reisen für ehrenamtliche Mitglieder geplant. Heute bin ich selbst ehrenamtliches Mitglied dieses Ausschusses und habe zum Beispiel als Mitglied eines Expertenteams des International Legal Assistance Consortiums an einem Rule of Law Assessment in Liberia mitgewirkt.

Netzwerk Sozialrecht: Sie sind derzeit in einer Kanzlei tätig, die verschiedene Rechtsgebiete vertritt. Sie selbst sind auch als Fachanwältin für Sozialrecht tätig. Wie kam es dazu?

Gilsbach: Bei der Tätigkeit beim DAV habe ich festgestellt, dass mir die juristische Arbeit mit Rechtsprechung und Bearbeitung von Einzelfällen fehlt. Deshalb habe ich mich umorientiert. Sozialrecht hat mich interessiert, denn ich hatte einen Teil meiner Rechtsanwaltsstation im Referendariat beim Sozialverband VdK gemacht und dort von meiner Ausbilderin, die Krankenschwester und Rechtsanwältin war, sehr viel gelernt.

 

„Es geht auch um die spannende Frage: Wie wird Kunst definiert?“

Netzwerk Sozialrecht: Was für Fälle vertreten Sie?

Gilsbach: Eigentlich die ganze Bandbreite. Also alles, was im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis steht, wie etwa Sperrzeiten beim Arbeitslosengeld I, Prüfen von Leistungsbescheiden und verhängten Sanktionen. Aber auch Fragen zur Schwerbehinderung. Dabei geht es um deren Anerkennung und den Grad der Behinderung sowie gegebenenfalls Hilfsmittel am Arbeitsplatz. Letztlich geht es auch um die Erwerbsminderungsrente und die leidige Frage, ob Antragsteller*innen noch auf eine andere Tätigkeit verwiesen werden können, sodass keine Rente wegen Erwerbsminderung gezahlt wird.
Für Selbstständige gilt es oft Fragen der gegebenenfalls mehrjährigen Beitragsschulden bei der Krankenversicherung zu klären. Und insbesondere für Solo-Selbstständige stellt sich auch die Frage, ob sie arbeitnehmerähnliche Personen sind. Ebenso geht es um Statusfeststellungsverfahren und Fragen der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung – etwa von selbstständigen Lehrer*innen. Auch fallen Fragen der Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse für selbstständige Künstler*innen an. Und dabei stellt sich dann die spannende Frage: Wie wird Kunst definiert?

Netzwerk Sozialrecht: Was ist bei den Verfahren im Sozialrecht besonders?

Gilsbach: Es handelt sich um Verfahren mit sehr viel Sachverhaltsarbeit. Deshalb sind die Verfahren häufig aufwendig. Hinzu kommt, dass oft medizinische Fragen eine große Rolle spielen und die Menschen sehr persönlich betroffen sind, etwa wenn es um ihren Gesundheitszustand geht. Wichtig ist ihnen dann auch die Anerkennung ihrer gesundheitlichen Situation.
Oder ein anderes Beispiel der existenziellen Betroffenheit: die Sanktion im Arbeitslosengeld-II-Bereich trifft finanziell hart, was verständlich ist, wenn bis zu 30 Prozent gekürzt werden. Auch bei der Erwerbsminderungsrente ist es für Menschen, die meinen, dass sie arbeitsmäßig nichts mehr leisten können, sehr schwer, wenn ihnen dann eine Verweisungstätigkeit zum Beispiel als Pförtner*in zugeschrieben wird. Das empfinden sie oft als völlig inakzeptabel. Ähnlich ist es, wenn nach einer fünf Jahre zurückliegenden Krebserkrankung kein Grad der Behinderung mehr anerkannt wird, gesundheitliche Beeinträchtigungen aber noch bestehen und empfunden werden. Das ist dann oftmals bitter und die persönliche Betroffenheit ist hoch.

Netzwerk Sozialrecht: Wie verkraften Sie das?

Gilsbach: Eine gute persönliche Abgrenzung ist notwendig, aber auch mit Mitgefühl. Und dabei vor allem: Jeden Menschen mit seiner Geschichte ernst zu nehmen.

 

„Mit 200 bis 300 Fällen pro Jahr kann man auskommen“

Netzwerk Sozialrecht: Wie ist die Einkommenssituation als Anwältin im Sozialrecht?

Gilsbach: Das hängt ganz maßgeblich von der jeweiligen Kostenstruktur ab. Mit 200 bis 300 Fällen pro Jahr kann man bei einer mittleren Kostenstruktur einer Kanzlei auskommen. Die Laufzeit der Verfahren ist relativ lang. Und viele Kläger*innen erhalten nur Prozesskostenhilfe (PKH). Das ist bei einer Klage finanziell kein Problem, aber bei einer Widerspruchsbearbeitung im Zuge der Beratungshilfe. Dann erhält die Rechtsanwältin im Fall des Unterliegens nur circa 120 Euro brutto bei PKH-Mandanten. Sonst beträgt die generelle Mittelgebühr nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz für ein Widerspruchsverfahren knapp 400 Euro. Das ist schlecht, da für ein erfolgversprechendes Widerspruchsverfahren bereits der gesamte (medizinische) Sachverhalt aufzubereiten ist. Es fehlt ein finanzieller Anreiz für eine frühzeitige erfolgreiche Beendigung des Widerspruchverfahrens. Manche behelfen sich damit, nur eine „Schmalspurbegründung“ im Widerspruchsverfahren abzugeben und anschließend in jedem Fall dann die Klage zu führen.

Netzwerk Sozialrecht: Gibt es noch andere Punkte, die problematisch sind?

Gilsbach: Es werden zum Beispiel die Akten in Arbeitslosengeld-II-Angelegenheiten im Widerspruchsverfahren von einigen Jobcentern nur ungern versandt. Es ist aber meistens zeitlich zu aufwendig, um zu einer persönlichen Akteneinsicht ins Jobcenter zu fahren. Im Gerichtsverfahren versenden Jobcenter die Akte aber problemlos an das Gericht.

Netzwerk Sozialrecht: Wie ist die Zusammenarbeit mit den Behördenvertretungen und bei Gericht?

Gilsbach: Mit den Behördenvertretungen ist eine sachbezogene Zusammenarbeit auch vor Gericht meist gut machbar. Da erlebe ich vor den Arbeitsgerichten mit den Rechtsanwält*innen von der Arbeitgeberseite ganz andere Selbstdarstellungen. Viele Richter*innen in der Sozialgerichtsbarkeit haben Verständnis für die soziale Lage der Betroffenen, manchmal aber merkt man halt doch, dass sie selbst eine andere Lebenssituation haben, zum Beispiel wenn sie Beziehenden von Arbeitslosengeld II nahelegen, einfach eine neue Wohnung zu suchen. Und das in Berlin!

Netzwerk Sozialrecht: Wie ist bei Ihrer Tätigkeit die Vereinbarkeit von Beruf und Freizeit möglich?

Gilsbach: Bisher habe ich das in einer Kanzlei mit mehreren Anwält*innen gut hinbekommen, weil die Vertretung auch bei einem längeren Urlaub problemlos zu regeln war.

 

„In der Ausbildung mal ins Ausland gehen!“

Netzwerk Sozialrecht: Gibt es noch weitere Rechtsgebiete, die Sie interessieren?

Gilsbach: Ja, zum Beispiel das Antidiskriminierungsrecht. In Berlin gibt es jetzt sogar ein Landesantidiskriminierungsgesetz, das bei Diskriminierungen durch öffentlich-rechtliches Handeln Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche ermöglicht. Gleichbehandlung und Antidiskriminierung sind zum Beispiel wichtig für Trans*Menschen im Umgang mit Behörden, aber auch wenn es um spezifische Ansprüche wie etwa Barthaarentfernung geht. Oder im Rahmen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen. Wie zum Beispiel bei einer Frau im Rollstuhl, die körperlich sehr eingeschränkt ist. Bei ihr stellt sich die Frage, ob sie eine ständige oder nur alle paar Stunden die absolut notwendige Unterstützung erhält, wodurch die selbstbestimmte Gestaltung ihres Lebens sehr eingeschränkt ist.

Netzwerk Sozialrecht: Zum Abschluss: Was empfehlen Sie Studierenden und Referendar*innen?

Gilsbach: Ich empfehle im Referendariat die Möglichkeiten in der Wahl-, Rechtsanwalts-, aber auch in der Gerichtsstation wirklich zu nutzen, um sich ein Bild von der Tätigkeit und von dem Rechtsgebiet in seiner praktischen Anwendung zu machen. Ich habe ja einen Teil der Rechtsanwaltsstation im Sozialrecht absolviert. Das war gut. Und ich habe auch im Studium und Referendariat im Ausland Stationen machen können. Das war jeweils eine große Bereicherung, sowohl inhaltlich wie persönlich.

Netzwerk Sozialrecht: Danke für das Gespräch.

Das Interview führte Helga Nielebock.
Sie ist ehemalige Leiterin der Abteilung Recht beim DGB-Bundesvorstand und ehrenamtliche Richterin am Bundesarbeitsgericht.