Sozialrecht in der Corona-Krise

Ein Kommentar von Eberhard Eichenhofer

In der derzeitigen Corona-Pandemie wird die Virologie zur Taktgeberin des gesellschaftlichen Lebens. Not verlangt neue Regeln. Um den unbekannten, medizinisch nicht beherrschbaren Virus einzudämmen, verabredeten Bund und Länder in Video – Konferenzen, die gesamte Bevölkerung als Verursacherin wie Opfer der Seuche in ihrem Alltag peinlich genau zu regulieren und beflissen zu schützen. Dies veränderte die Grundlagen gesellschaftlichen Lebens, das mittlerweile weithin zum Erliegen gekommen war – mit drastischen Folgen für Wirtschaft, Politik und Recht.

Auch das Sozialrecht wird durch den Corona-Virus einschneidend verändert. Alle waren sich plötzlich einig: Schnell musste möglichst viel geschehen! Und es geschah!

Binnen Wochenfrist wurden Kurzarbeitergeld und Grundsicherung neu ausgerichtet, ohne Kritik in Parlament und außerhalb. Drei Lesungen des Gesetzes wurden in einer Sitzung zusammengefasst und durch einstimmige Akklamation „absolviert“; eine Debatte entfiel. Die bei sozialpolitischen Gesetzesvorhaben bisher übliche Frage nach den Kosten blieb aus, weil diese nicht im Ansatz absehbar sind. Auch die parallel zu den Maßnahmen ebenfalls weithin einvernehmlich beschlossene Aufhebung der „Schuldenbremse“ (Verzicht auf neue Schulden) und damit die sofortige Abkehr von einer noch vor kurzem für unverrückbar geltenden Finanzpolitik der „Schwarzen Null“ wurde in einer einzigen Sitzung des Bundestages mit breiter Zustimmung aufgegeben und ein Nachtragshaushalt für den Bund in Höhe eines dreistelligen Milliardenbetrages verabschiedet. Als wären alle Sorgen vor überbordenden Staatsschulden und einer unsoliden Haushaltspolitik mit Folgen für die Stabilität der Währung wie weggeblasen!

Ab dem 1. März 2020 können Arbeitgeber bei einem Arbeitsausfall ab 1/10 des bisherigen Arbeitsvolumens das Kurzarbeitergeld beantragen. Es beläuft sich auf 60 % oder 67 % des entfallenden Arbeitsentgelts und ersetzt den Lohn der Beschäftigten. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) trägt sämtliche, durch Kurzarbeit entfallenden Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung. Das bisherige Gebot, dass vor Kurzarbeit der betriebliche Arbeitszeitausgleich ausgeschöpft werden müsste, wurde ausgesetzt. Auch die bisher ausgenommene Zeitarbeit wird nun eingeschlossen.

Der Kindergeldzuschlag kann vom 1. April bis zum 30. September 2020 als „Notfall“-Regelung nun aus dem Einkommen der anspruchsberechtigten Eltern des auf die Antragstellung vorangegangenen Monats – statt wie bisher aus einem Zeitraum der letzten sechs Monate – berechnet werden. Stundungen der Beitragszahlungen sind gestattet. Die Grundsicherung wird für Selbständige und Studierende (weiter) geöffnet und auf die Prüfung von Vermögen und Angemessenheit der Wohnung verzichtet.

Dies alles verblüfft und lässt die Frage aufkommen: Was folgt? Extreme Bedingungen fordern schnelles Handeln – auch vom Gesetzgeber. Die aktuelle Lage zeigt: Gerade das Sozialrecht steht in der Zeit und verharrt nicht unabhängig davon in der Bewahrung überkommener Prinzipien. Krise heißt, sich angesichts großer und rascher Veränderungen neu entscheiden. Deshalb ist der Gesetzgeber ob seiner aktuellen Hektik nicht zu kritisieren. Aber werden diese Maßnahmen von Dauer sein können? Die Bewältigung der Krise schafft eine neue Ausgangslage. Es wird alsbald zu beantworten sein, ob die geschaffenen Regeln auch für die Zeit danach gelten sollen. Die Zeit nach der Krise wird deshalb ebenfalls krisenhaft bleiben!

Prof. Dr. Dr. h.c. Eber­hard Eichen­hofer,

Universitäts­professor für Sozial­recht und Bürger­liches Recht an der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena i. R.