Sanktionen im SGB II:
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts

von Sabine Knickrehm | Mai 2021

Das so genannte Sanktionsurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) markiert – so Prof. Stephan Rixen (Universität Bayreuth) – ein weiteres Kapitel in der verfassungsrechtlichen Leidensgeschichte des SGB II. Worum geht es?

1. Ausgangslage

Auf Vorlage des Sozialgerichts Gotha hat das BVerfG am 5. November 2019 (Az.: 1 BvL 7/16) über die Verfassungsmäßigkeit der Sanktionsvorschriften des SGB II nach §§ 31 Abs. 1, 31a und 31b entschieden. Es geht dabei also um Sanktionen bei der Weigerung,

Auf Grund des beschränkten Streitgegenstandes hat das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit von Sanktionen für junge Leute unter 25 (nach § 31 Abs. 2 SGB II) sowie Pflichtverletzungen nach § 31a Abs. 2 SGB II (z.B. bewusstes unwirtschaftliches Verhalten) und Meldeversäumnissen (§ 32 SGB II) nicht tragend erwogen.

2. Wesentliche Entscheidungsinhalte

Existenzminimum, Mitwirkungspflichten und Nachranggrundsatz

Das Urteil ist „gemischt“ ausgefallen. Das BVerfG hat eine Minderung des Arbeitslosengeldes (Alg) II bis zu einem Umfang von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs für grundsätzlich verfassungsgemäß befunden. Dabei hat das Gericht die Möglichkeit der Sanktionierung – legitimiert durch den „Nachranggrundsatz“ – grundsätzlich als verfassungsrechtlich zulässig erkannt. Zwar stehe der Anspruch auf die Gewährleistung des Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gegen den Staat jedem zu und gehe auch durch vermeintlich „unwürdiges“ Verhalten nicht verloren. Auch seien Sanktionen, die auf den Versuch der Besserung abzielten, als staatliche Bevormundung anzusehen und nicht legitim.

Aber die Hilfebedürftigen träfen Mitwirkungspflichten bei der Überwindung ihres Hilfebedarfs, etwa durch Teilnahme an Maßnahmen, die darauf abzielten, sie in den Arbeitsmarkt zu (re)integrieren oder schlicht durch die Annahme eines zumutbaren Arbeitsangebots, wenn dem kein wichtiger Grund entgegenstehe. Kämen sie diesen Mitwirkungspflichten nicht nach, könnten sie im Gegenzug in sogleich zu benennenden verfassungsrechtlichen Grenzen sanktioniert werden.

Verhältnismäßigkeit der 30-Prozent-Sanktion

Mit dem Erfordernis der „Zumutbarkeit“ und dem Ausschluss zur Verpflichtung an der Mitwirkung wegen eines „wichtigen Grundes“ sind bereits die beiden zentralen Faktoren benannt, die die Verhältnismäßigkeit der Mitwirkungspflichten nach der Entscheidung des BVerfG bestimmen. Allerdings führen die starre Zeitdauer der Sanktion von drei Monaten – unabhängig davon, ob die Betroffenen ihren Pflichten nachträglich nachkommen oder bekunden nachzukommen – und die fehlende Möglichkeit der Jobcenter in Einzelfällen auch von einer Sanktionierung absehen zu können, das BVerfG dazu, auch bei einer Minderung des Alg II um 30 Prozent Bedenken im Hinblick auf die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Sanktionen im engeren Sinne anzumelden.

Verfassungswidrigkeit der 60-Prozent-Sanktion

Sanktionen in Höhe von 60 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs oder das vollständige Entfallen des Zahlungsanspruchs sind nach der Entscheidung des BVerfG mit dem GG unvereinbar. Es fehle insoweit an tragfähigen Erkenntnissen zur Eignung und Erforderlichkeit von Sanktionen in diesem Umfang. Soweit der Gesetzgeber Dienst- oder Sachleistungen in diesen Fällen zur Verfügung stelle oder die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung direkt an den Vermieter überweise, genügten die Ausgestaltung dieser Regelungen dem verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf Existenzsicherung nicht. Es mangele an hinreichend bestimmten Regelungen, unter welchen Vorgaben diese Leistungen zu erbringen seien.

3. Konsequenzen

Fachliche Hinweise der Bundesagentur für Arbeit

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat sogleich in ihren Fachlichen Hinweisen zu §§ 31, 31a und 31b die „Reißleine“ gezogen und angeordnet, dass keine Sanktionen über 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs hinaus mehr ausgesprochen werden dürfen – auch nicht, wenn diese Grenze durch Kumulation mit der zehnprozentigen Sanktion wegen eines Meldeversäumnisses überschritten wird, die Sanktionierung junge Menschen unter 25 Jahren betrifft oder auf Verletzungen der Pflichten nach § 31 Abs. 2 SGB II beruht. Zugleich fordert sie die Prüfung, ob die Sanktion zu einer außergewöhnlichen Härte führt. So ist gegebenenfalls von der Minderung für die vollständigen drei Monate oder im vollen Umfang abzusehen, wenn Leistungsberechtigte sich nachträglich zur Mitwirkung bereit erklären. Wert wird in den Fachlichen Hinweisen der BA zudem auf die vorherige persönliche Anhörung der Sanktionsbedrohten gelegt, gegebenenfalls auch durch Aufsuchen der Leistungsberechtigten.

Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums

Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber – anders als sonst meist üblich – keine Frist gesetzt, bis zu deren Ablauf eine gesetzliche Neureglung erfolgen muss. Anfang 2021 hatte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) einen Referentenentwurf zu einem 11. SGB-II-Änderungsgesetz vorgelegt, in dem auch das Sanktionsthema gelöst werden sollte. Ob der Referentenentwurf aber das Stadium eines Gesetzentwurfs erreichen wird, ist mehr als fraglich. Nach diesem Entwurf sind die folgenden Konsequenzen für die Rechtslage aus der Entscheidung des BVerfG denkbar:

4. Fazit

Die Stellungnahmen von Sozialrechtler*innen zu dem Karlsruher Sanktionsurteil fallen „bunt“ aus. Sie reichen von der Aussage,

Wie es mit dem verfassungsrechtlich in der Tat notleidenden SGB II weitergeht, liegt auch im Hinblick auf die Sanktionstatbestände nun in der Hand des Gesetzgebers. Erfreulich wäre, wenn der Fokus dabei weniger auf dem sozialhilferechtlichen Strukturprinzip des Nachranggrundsatzes liegen würde. Stattdessen sollte das der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik ja durchaus eigene Prinzip des „Förderns“ – mit einer Stärkung der „Anreizpolitik“ – in den Vordergrund treten. Auf Sanktionen insgesamt zu verzichten ist – wenn auch das BVerfG diese Möglichkeit selbst andeutet – zumindest verfassungsrechtlich nicht geboten.

Sabine Knickrehm,

Vorsitzende Richterin am Bundessozialgericht