Sanktionen im SGB II:
Anspruchsdisqualifikation oder Ahndung für Regelverstoß?

von Eberhard Eichenhofer | Mai 2021

Das Sozialrecht muss die Frage beantworten: Was gilt, wenn Berechtigte die gebotene Mitwirkung versäumen? Zwei Antworten sind denkbar: Entweder schließt die unterbliebene Mitwirkung die Berechtigten generell vom Anspruch aus oder konkrete Regelverstöße werden speziell mit Sanktionen belegt – bei grundsätzlicher Beibehaltung des Leistungsanspruchs. Im Folgenden werden diese beiden Varianten näher beleuchtet.

Im Sozialrecht sind Mitwirkungen der Berechtigten für den Leistungsanspruch oft unumgänglich: im Recht der Arbeitsförderung allemal, aber darüber hinaus auch im gesamten Sozialrecht. In der Mitwirkung wird die Eigenverantwortung der Berechtigten eingefordert und sie ist für die Wirksamkeit sozialer Dienstleistungen zentral. Sozialrecht erweist sich hierin als Hilfe zur Selbsthilfe und versagt daher denen die Unterstützung, die sich selbst nicht helfen wollen.

Wenn Berechtigte die gebotene Mitwirkung versäumen, könnten sie entweder ganz vom Anspruch ausgeschlossen werden oder die Regelverstöße werden mit speziellen Sanktionen belegt, aber grundsätzlicher bleibt der Leistungsanspruch erhalten.

Der erste Weg macht die von den Berechtigten geforderte Mitwirkung zur Tatbestandsvoraussetzung – neben allen anderen Voraussetzungen für den Anspruch. Dieser wird damit als durch die Mitwirkung der Berechtigten bedingt gedacht und somit von ihr abhängig. In dieser Konstruktion ist in jedem Mitwirkungsversäumnis der potenzielle Totalausschluss vom Anspruch angelegt.

Unterbliebene Mitwirkung kann anstelle dessen aber auch durch einen an Pflichtverstößen orientierten Katalog von Lasten sanktioniert werden. Der Mitwirkungsverstoß disqualifiziert den Berechtigten in diesem Fall nicht, verpflichtet aber zur Kompensation des Trägers, falls Berechtigte ihrer Mitwirkungsverantwortung nicht nachkommen.

Rechtssystematisch betrachtet lässt sich die aufgeworfene Frage dahin zuspitzen: Soll die versäumte Mitwirkung eine Obliegenheits- oder eine Pflichtverletzung darstellen? Bei ersterer wäre das Versäumnis durch die Verwirkung des Anspruchs sanktioniert, bei letzterer bliebe der Anspruch unberührt, forderte aber nach Kompensation der Pflichtverletzung.

1. Schillerndes Recht

Die aufgeworfene Frage stellte sich schon immer. Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 5. November 2019 (Az.: 1 BvL 7/16) das Sanktionensystem des SGB II in seiner Entscheidung verworfen hat und seine Neuordnung forderte, muss die damit aufgeworfene Grundsatzfrage dringend erörtert werden.

Das geltende Recht schillert in seiner Ausrichtung. Das Sanktionensystem des SGB II und der gesamte Regelungskomplex der Mitwirkungshandlungen in §§ 60–65 SGB I gestaltet diese eindeutig als Obliegenheit aus. Die Träger können die von den Berechtigten geschuldete Mitwirkung nicht erzwingen; unterbleibt sie dennoch, wird ihre Unterlassung mit Rechtsverlusten sanktioniert.

Die Sperrzeit im Recht der Arbeitslosenversicherung lässt den Versicherungsanspruch entfallen, weil die Versicherten der Vorwurf trifft, sie hätten den Versicherungsfall Arbeitslosigkeit statt erlitten, willentlich und zielgerichtet herbeigeführt. Da die Arbeitslosenversicherung nur vor im erlittenen, nicht im selbst verursachten Versicherungsfall schützt, ist der Leistungsausschluss in einem solchen Fall in der Arbeitslosenversicherung angelegt.

Wenn sich Arbeitsuchende in der Grundsicherung beim Jobcenter nicht melden, die Absprachen aus der Eingliederungsvereinbarung nicht erfüllen oder eine angebotene Arbeitsstelle, Maßnahme oder Bildung trotz Eignung nicht annehmen, disqualifizieren sie sich für den Anspruch auf Existenzsicherungsleistungen. Der Anspruchsverlust variiert nach der Handlung, einer möglichen Wiederholung, der Schwere und dem Lebensalter der Berechtigten: Bis zum Urteilsspruch des BVerG waren – je nach Schwere des Versäumnisses – einzelne Kürzungen zwischen 30 bis 100 Prozent des Leistungsanspruchs vorgesehen.

2. BVerfG: Sanktion – keine Anspruchsdisqualifikation

Das BVerfG verwarf sämtliche Kürzungen über 30 Prozent des Anspruchs als verfassungswidrige Versagung des Menschenrechts auf Existenzsicherung. Dieses leitete das Gericht aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 und 20 Grundgesetz (GG) ab. Das Recht auf Existenzsicherung ist darüber hinaus im internationalen Recht in Art. 25 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), Art. 9 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPawskR), Art. 30 der Revidierten Europäischen Sozialcharta (RevESC) und Art. 34 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGRCh) als soziales Menschenrecht anerkannt und niedergelegt.

Das BVerfG befand: Unwürdiges Verhalten rechtfertige nicht die Absenkung der Existenzsicherungsleistungen unter ein der Existenzsicherung nicht mehr dienliches und taugliches Niveau. Es sei zwar prinzipiell statthaft, Bezieherinnen und Bezieher von Grundsicherung zur Selbsthilfe und Überwindung ihrer Notlage anzuhalten und bei einzelnen Versäumnissen einzelne Sanktionen zu ergreifen. Diese wären über unverhältnismäßig hoch, wenn sie die Lebensgrundlage der Berechtigten gänzlich beseitigten.

Generell bestimmen die Regeln über die Mitwirkungsanforderungen im Sozialrecht, dass jenseits unzumutbarer Verhaltensanforderungen die Berechtigten zur Mitwirkung an der Leistungserbringung verpflichtet sind: Sie müssen durch Darlegung der Voraussetzungen, Einwilligung in Heilbehandlungen oder Anforderungen an die berufliche Aus- und Weiterbildung Leistungen ermöglichen und Leistungsanlässe überwinden.

In der Ausgestaltung der Kürzungs- und Entzugsvoraussetzungen von Sozialleistungsansprüchen wegen versäumter Mitwirkung sind durch Gesetzgebung und Rechtsprechung Einzelanforderungen an die Obliegenheiten entwickelt worden, die sich an den aus dem Strafrecht entwickelten Kriterien der Rechtsstaatlichkeit orientieren. Die Anforderungen müssen danach individuell zumutbar, berechenbar, erkennbar und beherrschbar sein und die Verstöße führen nur dann zum Leistungsausschluss oder zu einer Verminderung des Leistungsvolumens, wenn die zur Mitwirkung angehaltenen Berechtigten schuldhaft – d.h. wissentlich und willentlich – gegen die sie treffenden Obliegenheiten verstoßen haben. Im Hinblick auf die Rechtsfolgen ist schließlich eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen.

An diesen Gedanken knüpft auch das BVerfG an und verwirft die Rechtsfolge eines substanziellen Entzugs von Leistungen der Grundsicherung bei einem vereinzelten oder wiederholten Verstoß gegen die Mitwirkungsobliegenheit in Gänze jedoch als insgesamt unverhältnismäßige Sanktion und Reaktion. Dort soll die Sanktionierung das Recht auf Existenzsicherung nicht aufzehren, sondern allenfalls schmälern.

Auf der Grundlage dieser Erkenntnis ist der das geltende Recht generell kennzeichnende Disqualifizierungsansatz als öffentliche Reaktion auf Mitwirkungsversäumnisse verfassungsrechtlich erschüttert, wenn nicht gar ausgeschlossen. Wenn es unverhältnismäßig ist, den Verstoß gegen Mitwirkungsanforderungen mit dem vollständigen oder einem substanziellen Verlust des Anspruchs auf Existenzsicherung zu sanktionieren, so bedeutet das, dass der Anspruch mit der Mitwirkung nicht stehen und fallen kann – und darf. Dem Staat ist der Zugriff auf die Subsidien der Daseinssicherung seit jeher schon im Vollstreckungsrecht durch Pfändungsverbote versagt. Wie kann ihm dann gestattet sein, solchen Zustand im Grundsicherungsrecht bewusst anzurichten?

3. Sanktion: Bußgeld für Regelverstoß

Auf versäumte Mitwirkungen durch Disqualifikation zu reagieren, ist damit jedenfalls für das Existenzsicherungsrecht tabu. Auch bei den allgemeinen Fragen der Mitwirkung wird aus dem Karlsruher Urteil die Einsicht folgen, dass die Mitwirkung Mittel zum Zweck der Sozialleistungsgewährung ist und dieser daher nachgeordnet ist und ihr deshalb nicht übergeordnet werden darf.

 Es ist deshalb an der Zeit, auf der Grundlage der erwogenen Alternative nach Wegen für ein neues Sanktionensystem Ausschau zu halten. Das Ziel müssten merkliche, aber existenzwahrende, tat- und schuldbezogene und bedarfsunabhängige Sanktionen sein. Die versagte Mitwirkung zu sanktionieren, muss daher zunächst einmal von der Leistungsgewährung entkoppelt und damit Gegenstand einer eigenen Sanktionierungspraxis werden.

Die Versäumnisse der Mitwirkung dürfen deshalb nicht als negatives Tatbestandsmerkmal des Anspruchs konzipiert sein, sondern müssten sich einfügen in das Handlungsrepertoire einer Verwaltungsbehörde. Das bedeutet, die Sanktionen müssen tatbestandsmäßig umschrieben und damit klar und eindeutig sein, vom Verschulden der Berechtigten abhängen und in der Höhe einheitlich als Bußgeld festgesetzt werden.

Um dieses möglichst einfach und kostensparend zu vollstrecken, kommt dessen Abzug vom Leistungsbetrag in Betracht. Die Möglichkeit dazu müsste durch entsprechende Ausnahmen von den Aufrechnungsverboten für existenzsichernde Leistungen (§§ 53 II SGB I, 400 BGB) gesichert werden.

4. Neue Maxime für die Sanktionspraxis

Die künftige Sanktionspraxis müsste vor allem einer neuen Maxime folgen: Das Einfordern der Mitwirkung ist der Förderung der Berechtigten durch die Arbeitsverwaltung unter- und nachgeordnet. Die Mitwirkung ist das Mittel zum Zweck der Hilfe zur Selbsthilfe und nicht etwa ein Selbstzweck oder gar der Vorwand zur Demütigung und Entrechtung der Berechtigten!

Prof. Dr. Dr. Eberhard Eichenhofer,

Universitäts­professor für Sozial­recht und Bürger­liches Recht an der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena i. R.