Von Irene Becker | 4. November 2022
Das geplante Bürgergeld-Gesetz sieht – vor dem Hintergrund der stark gestiegenen Preise – eine Neuberechnung bei der jährlichen Anpassung der Regelbedarfe vor. Wie sieht das neue Fortschreibungsverfahren aus? Reicht die neue Berechnungsmethode aus, um den künftigen Bezieher:innen von Bürgergeld ein menschenwürdiges Existenzminimum zu garantieren?
Reformbedarf
Die Regelbedarfsermittlung auf Basis der alle fünf Jahre durchgeführten Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS), wie sie im SGB II und XII festgelegt ist, steht seit Jahren in der Kritik. Das Verfahren wird als methodisch unzulänglich bemängelt, im Ergebnis führt es zu einer systematischen Bedarfsunterdeckung (siehe auch hier).
Demgegenüber sind gegen die Fortschreibungsregel, die wegen des großen zeitlichen Abstands von fünf Jahren zwischen den EVS erforderlich ist (§ 28a SGB XII), bisher weniger Einwendungen vorgebracht worden. Dies hat sich in den letzten 12 Monaten – also im Zuge der stark steigenden Inflationsraten – geändert. Die rückwärtsgewandte Vorgehensweise bei der jährlichen Anpassung der Regelbedarfsstufen (RBS) lässt aktuelle Entwicklungen außen vor, was in Zeiten moderater Preisveränderungen zwar toleriert werden konnte, aber auch früher schon kritisch gesehen wurde (vgl. z. B. hier, S. 48 f. und 51).
Nunmehr aber wird diese Vorgehensweise als nicht mehr angemessen erachtet, auch von juristischer Seite (siehe z. B. hier) und der Sozialforschung (siehe z. B. hier, Zeitgespräch S. 587 f.).
Die problematischen Folgen der derzeitigen Fortschreibung zeigen sich sehr drastisch an der marginalen Erhöhung der Regelbedarfe zum Januar 2022: Für das gesamte Jahr wurden die Sätze nur um 0,76 % angehoben – zu einem Zeitpunkt, als der maßgebliche Preisindex bereits um 3,9 % über dem des Vorjahresmonats lag, bevor diese Veränderungsrate im Jahresverlauf dann bis September 2022 auf 10,6 % gestiegen ist.
Die im Zuge der inflationären Entwicklung 2022 sinkenden Realwerte der Regelbedarfsstufen führen ceteris paribus zu einer Verletzung des verfassungsrechtlich gebotenen Ziels, „zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen“, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Regelbedarfs-Urteil vom 9. Februar 2010 (Az.: 1 BvL 1/09 u. a., Rn. 140) festgehalten hat.
Dem versucht der Gesetzgeber mit verschiedenen Maßnahmen entgegenzuwirken. Im laufenden Jahr wurden bzw. werden Einmalzahlungen gewährt, die aber vorhersehbar zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums nicht ausreichen werden – dies haben Berechnungen schon für das erste Quartal 2022 gezeigt (vgl. hier und hier, Zeitgespräch S. 587 f.).
Demgegenüber sollen im nächsten Jahr die Kaufkraftminderungen bei Haushalten mit Grundsicherungs- bzw. dann voraussichtlich Bürgergeldbezug mit einer neuen Anpassungsformel kompensiert werden.
Reform des Fortschreibungsverfahrens laut Gesetzentwurf für das Bürgergeld
Nach dem Regierungsentwurf der Bundesregierung zum Bürgergeld-Gesetz (S. 33) soll künftig ein zweistufiges Anpassungsverfahren angewendet werden. Dabei wird an die bisherige Vorschrift angeknüpft, die in unveränderter Form als Basisfortschreibung eingeht, der künftig aber eine ergänzende Fortschreibung angeschlossen werden soll.
Basisfortschreibung: Die derzeitige Methode laut § 28a SGB XII – und damit die Basisfortschreibung – bezieht sich auf einen Zwölfmonatszeitraum, der bereits ein halbes Jahr vor dem Zeitpunkt der Anpassung endet, im Vergleich zum davor liegenden Zwölfmonatszeitraum. Dabei wird nicht nur die Entwicklung der regelbedarfsrelevanten Preise, sondern auch die Lohnentwicklung einbezogen. Erstere geht mit 70 %, Letztere mit 30 % in den so genannten Mischindex ein.
Für die letzte Anhebung der Regelbedarfe zum Januar 2022 wurden also die Preis- und Lohnindizes im Zeitraum vom 1. Juli 2020 bis zum 30. Juni 2021 gegenüber denen im entsprechenden vorangegangenen Zwölfmonatszeitraum (1. Juli 2019 bis 30. Juni 2020) herangezogen. In der ersten Hälfte des damaligen maßgeblichen Zeitraums (zweites Halbjahr 2020) waren die Preise allerdings durch die befristete Mehrwertsteuersenkung gedrückt, und in der zweiten Hälfte (erstes Halbjahr 2021) sind sie noch sehr moderat gestiegen. Dies erklärt die nur geringfügige Veränderungsrate gegenüber dem davor liegenden Zwölfmonatszeitraum von nur 0,1 %. In Kombination mit dem Anstieg des Lohnindex um immerhin 2,31 % resultierte daraus die unzureichende Anhebung der Regelbedarfe für 2022 um nur 0,76 %.
Analog bezieht sich die anstehende Basisfortschreibung zum Januar 2023 zwar wiederum nicht auf den aktuellen Rand – der relevante Zwölfmonatszeitraum endet wie bisher wieder ein halbes Jahr vor dem Zeitpunkt der Anpassung (30. Juni 2022). Die Preisentwicklung geht nun aber mit einer Veränderungsrate von 4,7 % ein, was zusammen mit der Veränderung des Lohnindex um 4,16 % zu einer Steigerungsrate für den Mischindex von 4,54 % bzw. zu einem Anpassungsfaktor für die Basisfortschreibung von 1,0454 führt.
Ergänzende Fortschreibung: Als neuer zweiter Schritt der Regelbedarfsfortschreibung ist eine ergänzende Fortschreibung vorgesehen. Sie sattelt auf der Basisfortschreibung mit einem weiteren Anpassungsfaktor auf. Dieser ergibt sich aus dem Index der regelbedarfsrelevanten Preise im zweiten Quartal des Vorjahres (für 2023: 2022) im Vergleich zum Index im zweiten Quartal des Vorvorjahres (für 2023: 2021). Für die Anpassung zum Januar 2023 resultiert eine Veränderungsrate für die ergänzende Fortschreibung von 6,9 % bzw. ein Anpassungsfaktor von 1,069.
Zusammen mit der Basisfortschreibung folgt daraus ein Anpassungsfaktor von (1,069 x 1,0454 =) 1,1175. Das entspricht einer Regelbedarfserhöhung um 11,75 %. Entsprechend den Rundungsvorschriften liegen die Regelbedarfe (RB) im nächsten Jahr zwischen 33 Euro (in RB-Stufe 6) und 53 Euro (in RB-Stufe 1) über den Beträgen in 2022 (siehe Tabelle).
Sicherung des Existenzminimums bei künftig weiter steigenden Preisen nicht gewährleistet
Aus der neuen Fortschreibungsformel ergibt sich für Januar 2023 immerhin eine Erhöhung der Regelbedarfe, die mit fast 12 % sogar oberhalb der Veränderungsrate des maßgeblichen Preisindex im Jahresdurchschnitt von 2022 gegenüber dem Vorjahr liegen dürfte. Letztere kann auf ca. 8 % geschätzt werden, sofern keine weiteren Preissprünge bis Dezember erfolgen. Dies ist für die Betroffenen eine erhebliche Erleichterung gegenüber der Situation im laufenden Jahr.
Dennoch wird die von Regierungsseite als „angemessen und deutlich“ gepriesene Anpassung weder verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten noch den im Gesetzentwurf formulierten Zielen gerecht. Denn letztlich geht es nicht nur um durchschnittliche Änderungsraten in der Vergangenheit, die in der Formel miteinander verknüpft werden. Darüber hinaus sollten der inflationäre Entwicklungsverlauf und die daraus abschätzbaren Veränderungen in dem Jahr, für das die Regelbedarfe hinreichend sein sollen, einbezogen werden.
Dementsprechend wird im Gesetzentwurf für das Bürgergeld (S. 2) zwar ausgeführt, dass „die Fortschreibungen der Regelbedarfe […] künftig die zu erwartende regelbedarfsrelevante Preisentwicklung zeitnaher und damit wirksamer“ widerspiegeln und dass dazu „die aktuellsten verfügbaren Daten über die regelbedarfsrelevante Preisentwicklung für die Fortschreibung zusätzlich berücksichtigt“ werden. Mit dem Zusammenspiel von Basis- und ergänzender Fortschreibung wird dies aber nicht systematisch erreicht.
Der berücksichtigte Zeitraum endet nach wie vor ein halbes Jahr vor dem Anpassungszeitpunkt, die bereits bekannte (bis zum Ende des dritten Quartals) und die zu erwartende weitere Entwicklung bleiben außen vor. Letztere wird wahrscheinlich von weiteren Steigerungen der Konsumgüterpreise geprägt sein. So ergibt sich aus Umfrageergebnissen des ifo Instituts vom Oktober, dass nahezu alle befragten Lebensmitteleinzelhändler (per Saldo 96,7% gegenüber 100% im September) weitere Preiserhöhungen planen, auch in anderen Bereichen sind mehrheitlich Preisanhebungen geplant (siehe hier).
Diese Konstellation wird im Gesetzentwurf für das Bürgergeld nicht berücksichtigt. Die künftige Entwicklung des regelbedarfsrelevanten Preisindex ist zwar schwer abschätzbar, aber zumindest die Ergebnisse für das laufende Jahr könnten zeitnaher einbezogen werden. Dem steht nicht entgegen, dass parlamentarische Verfahren bis zum Inkrafttreten von Gesetzen und Verordnungen einige Zeit beanspruchen. Beispielsweise wurden im Laufe des parlamentarischen Verfahrens bis zur Verabschiedung des Regelbedarfsermittlungsgesetzes (RBEG) 2020 die bei Entwurfsvorlage noch nicht vorliegenden Zahlen über einen Änderungsantrag nachträglich eingearbeitet. Die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen wurde also noch vor Inkrafttreten des Gesetzes aktualisiert.
Trotz der Vernachlässigung der Entwicklung seit Mitte des Jahres folgt aus der neuen Anpassungsformel für 2023 eine Erhöhung der Regelbedarfe, die mit 11,75 % etwas oberhalb der Veränderung des regelbedarfsrelevanten Preisindex von 10,6 % (September 2022) liegt. Dies folgt aus der starken Übergewichtung der Inflationsraten im zweiten Quartal 2022 durch Multiplikation des Ergebnisses der Basisfortschreibung.
Diese Vorgehensweise ist unsystematisch, freihändig gegriffen, das Resultat ist eher zufällig – es ist vom Verlauf der Preisänderungsraten abhängig. Wenn beispielsweise im Falle einer kurzfristigen Mehrwertsteuersenkung im zweiten Quartal die regelbedarfsrelevanten Preise kurzfristig sinken (ähnlich wie in der zweiten Jahreshälfte 2020), um anschließend umso mehr zu steigen, würde die neue Formel zu einer Fortschreibungsrate führen, die den aktuellen Gegebenheiten nicht gerecht wird. Das im Gesetzentwurf vorgesehene Fortschreibungsverfahren ist also zum einen zur Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums bei potenziell stark steigendem Preisniveau in 2023 nicht hinreichend. Und zum anderen fehlt es an einer Systematik, die unabhängig vom speziellen Verlauf der Indexänderungen in der Vergangenheit das Sicherungsziel erreicht.
Ausblick
Dass die für 2023 vorgesehene Regelbedarfserhöhung ungefähr dem erwartbaren Preisanstieg zum Jahresende gegenüber Dezember 2022 entspricht, ist zu begrüßen. Dieses Ergebnis sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit der neuen Fortschreibungsformel weiterhin der aktuelle Rand und vorhersehbare Entwicklungen unberücksichtigt bleiben und dass eine auch künftig angemessene Anpassung des soziokulturellen Existenzminimums nicht gewährleistet ist.
Nach wie vor ist nicht sichergestellt, dass das soziokulturelle Existenzminimum im Falle von plötzlichen Preissteigerungen immer gedeckt ist, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinen Beschlüssen von 2010 (siehe hier z. B. Rn. 140) und 2014 (siehe hier) gefordert hat. Deshalb sollte eine zeitnahe und unterjährige Anpassung an Preissteigerungen gesetzlich verankert werden – was auf Basis der kontinuierlichen Preisstatistik des Statistischen Bundesamtes problemlos möglich ist (siehe auch hier).
Für das laufende Jahr wäre zudem eine nachträgliche Aktualisierung in Form eines Inflationsausgleichs für Grundsicherungsbeziehende sinnvoll. Denn mit den bisherigen Einmalzahlungen wird die Absenkung des realen Lebensstandards der Betroffenen nicht ausgeglichen.
Was im Gesetzentwurf für das Bürgergeld völlig fehlt, ist eine Anhebung des von vielen Seiten kritisierten Ausgangspunkts der Fortschreibungen – also der mit den RBEG 2020 festgelegten Regelbedarfsstufen. Somit implizieren die Regelbedarfe von 2023 keineswegs eine Verbesserung des Lebensstandards gegenüber dem vom Gesetzgeber beschlossenen Ergebnis für 2021, sondern lediglich eine Korrektur des 2022 stark gesunkenen Niveaus.
Aus dem Koalitionsvertrag (S. 75) kann etwas mehr herausgelesen werden, da eine neue Leistung angekündigt wird, die „zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen“ soll. Dem wird das Bürgergeldkonzept nicht gerecht. Denn zur Ermöglichung von gesellschaftlicher Teilhabe ist eine grundsätzliche Neukonzipierung der Regelbedarfsermittlung erforderlich, die bisherige methodische Unzulänglichkeiten vermeidet. Entsprechende Vorschläge liegen vor. Sie basieren auf einem konsequent umgesetzten Statistikmodell ohne nachträgliche normativ begründete Kürzungen – politische Setzungen müssen im Vorfeld der Berechnungen erfolgen (siehe z. B. hier).