von Birgit Apitzsch, Britta Rehder und Philip Schillen | Oktober 2021
Die Ausweitung von Legal Technologies wird aktuell als eine der größten Transformationen im Rechtssystem und in den Rechtsberufen angesehen. Doch welche Rolle spielt Legal Tech im Sozialrecht? Und welche Formen von Legal Technologies lassen sich hier beobachten? Wie wirken sie sich auf die Rechtsmobilisierung – also der Durchsetzung von Recht durch konkrete Akteure – in einem Bereich aus, in dem die Realisierung von sozialen Leistungen oft von existenzieller Bedeutung ist? Ein aktuelles sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt ging diesen Fragen nach. Hier werden einige Ergebnisse vorgestellt.
Das Forschungsprojekt
Was verbirgt sich eigentlich hinter dem schillernden Begriff der Legal Technologies? Ganz allgemein handelt es sich dabei um die Bearbeitung von rechtlichen Fragen und Fällen mit Hilfe von Software zur Unterstützung oder gar Ersetzung juristischer Arbeitsprozesse, wie etwa Prof. Susanne Hähnchen und Robert Bommel in der Ausgabe 11/2018 des Anwaltsblatts (siehe hier) feststellen.
Einige Prognosen sehen im Bedeutungsgewinn von Legal Technologies bereits das Ende des Anwaltsberufs heraufziehen. So lautete etwa schon 2010 ein Buchtitel des britischen Rechtswissenschaftler Richard Susskind: „The End of Lawyers? Rethinking the nature of legal services“. Andere Prognosen sehen zumindest umfassende Veränderungen im juristischen Arbeiten durch Legal Technologies. Und die reine Masse von Verfahren, die über Legal-Tech-Anbieter beispielsweise im Verbraucherschutz ermöglicht wurden, stellen Justiz und Rechtsstaat vor neue Herausforderungen. Deutlich macht das auch der Artikel „Legal Tech & Dieselgate – Digitale Rechtsdienstleister als Akteure der strategischen Prozessführung“ von Prof. Britta Rehder und Katharina van Elten in der Ausgabe 1/2019 der Zeitschrift für Rechtssoziologie (siehe hier). Auch im Sozialrecht lassen sich in jüngerer Zeit Legal Tech-Angebote beobachten, die einen schnellen und niedrigschwelligen Zugang zum Recht versprechen.
Vor diesem Hintergrund untersuchte das im Rahmen des Fördernetzwerks Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geförderte Projekt „Digitale Rechtsmobilisierung. Eine Provokation für die Sozialverwaltung?“ die Formen und Folgen der Digitalisierung im Sozialrecht. Der empirische Zugriff auf Legal Technologies umfasste eine Bestandsaufnahme der Online-Anbieter und eine standardisierte Befragung niedersächsischer und nordrhein-westfälischer Sozialrechtskanzleien. Außerdem wurden Interviews mit Anbieter*innen digitaler Rechtsdienstleistungen durchgeführt sowie mit Vertreter*innen von Sozialverwaltung und zivilgesellschaftlichen Rechtsberatungsstellen, beispielsweise in der Trägerschaft von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden oder in Form von Erwerbsloseninitiativen. Denn die Akteure auf dem „Markt“ der Information und Vermittlung von rechtlichen Informationen sowie der Beratung und Rechtsdurchsetzung sind vielfältig. Nichtkommerzielle und kommerzielle Anbieter stehen dabei – teilweise in Konkurrenz – nebeneinander, wie die folgende Abbildung zeigt (die Abbildung als PDF-Datei finden Sie hier).
Weitere Informationen zum Forschungsprojekt finden sich hier.
Ausgangspunkt des Projektes war die Annahme, dass das Besondere und die Dynamiken von Legal Technologies nur umfassend und auch mit Blick auf die klassischen, weniger digitalen Beratungsangebote verstanden werden können.
Was verbirgt sich hinter „Legal Technologies“ im Sozialrecht?
Im Sozialrecht finden sich beispielsweise prominente Angebote von kommerziellen Legal-Tech-Anbietern zum SGB II und im SGB V. Sie versprechen, kostenlos und unkompliziert Widersprüche und Klagen gegen Entscheidungen von Jobcentern oder Krankenkassen einlegen zu können. Zwei Beispiele dazu werden im Beitrag „Wie Legal-Tech-Unternehmen das Sozialrecht nutzen“ in diesem Thema des Monats ausführlicher beleuchtet. Diese Beispiele stehen stellvertretend für besonders typische Anwendungsbereiche.
Eine Bestandsaufnahme dieses äußerst volatilen Feldes ergab jedoch, dass von den etwa 55 kommerziellen Rechtsdienstleistern, die in Deutschland Legal-Tech-Leistungen für ihre „Kunden“ anbieten, nur etwa 20 % Sozialrechtsspezialisten sind. Auch wird das Sozialrecht bislang nur selektiv erschlossen, mit Schwerpunkten im Bereich Hartz IV und im Gesundheitsbereich (v. a. Hilfs- und Heilmittel, Arzthaftung). Außerdem stecken nicht immer hochentwickelte Algorithmen und Künstliche Intelligenz hinter den Angeboten; zentral scheint für die Hälfte der Angebote von Kanzleien und Versicherungen eher die Generierung von neuen Kund*innen durch gut auffindbare Onlineangebote zu sein.
Welche alternativen Angebote der Rechtsmobilisierung gibt es?
In diesem Sinne wird auch, und insbesondere vor dem Hintergrund des ersten „Lockdowns“ seit Beginn der Corona-Pandemie, von 64 % der 250 im Rahmen des Forschungsprojekts befragten „klassischen“ Sozialrechtsanwält*innen der Stellenwert der Digitalisierung als hoch oder sehr hoch eingeschätzt (siehe folgende Abbildung).
Aber die Schwerpunkte liegen hier in einfacheren Hilfsmitteln zur elektronischen Kommunikation mit Mandant*innen, in Webauftritten und Möglichkeiten der Online-Akquise sowie in der Fallbearbeitung mit einfachen Tools, beispielsweise zur Berechnung von Leistungsansprüchen.
Ähnlich nutzen – spätestens mit Einsetzen der Pandemie und den damit verbundenen Kontaktbeschränkungen – auch zivilgesellschaftliche Anbieter von Sozialrechtsberatung wie Verbände und selbst kleine Beratungsstellen zunehmend Möglichkeiten der Digitalisierung, vor allem für die Onlineberatung. Diese Digitalisierungsstrategien zielen gerade nicht auf die möglichst umfassende Rationalisierung und Automatisierung der Fallbearbeitung und des Mandant*innenkontakts, sondern auf die Unterstützung der persönlichen Beratung. Dabei sind Sozial- und Sozialrechtsberatung stark miteinander verschränkt, wie u.a. Katharina Weyrich, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Sozial- und Gesundheitsrecht, Recht der Rehabilitation und Behinderung der Universität Kassel, festgestellt hat (siehe hier).
In existenziellen Notlagen und Fragen der Ansprüche auf Unterstützung, aus denen Beratungsbedarf entsteht, verbinden sich soziale und sozialrechtliche Probleme. Wirksame Unterstützung umfasst oft auch den fallbezogenen Verweis auf ergänzende Beratung und die Vermittlung von Entscheidungsgrundlagen der Behörden. Über den Einzelfall hinaus wirken auch sozialpolitische Aktivitäten unterstützend. In dieser Konstellation erschien den interviewten zivilgesellschaftlichen Beratungsanbietern bis zum Einsetzen der Pandemie eine nicht-persönliche Beratung oft undenkbar. Dort, wo die kontaktbeschränkte Beratung technisch unterstützt oder wo auch eine reine Onlineberatung angeboten wird, sind diese Angebote oft mit persönlichen Beratungsangeboten verknüpft.
Fazit: Gebremste Entwicklung des Legal Tech-Marktes im Sozialrecht
Aktuell scheint das Sozialrecht kein Bereich der starken Expansion von Legal Tech-Angeboten zu sein. Dies lässt sich zum einen auf Probleme der Finanzierung der Angebote und der Mandant*innenbindung in diesem Rechtsbereich zurückführen. Zum anderen liegt dies unseres Erachtens an Besonderheiten des Sozialrechts, in dem die Beratungsbedarfe oft über isolierte und standardisierte Angebote der Rechtsdurchsetzung hinausgehen. Darauf richten sich fest etablierte und sozialpolitisch integrierte zivilgesellschaftliche, umfassende Beratungsangebote, oft niedrigschwellig vor Ort und zunehmend auch im digitalen Raum.
Wenngleich Legal Technologies im Sozialrecht neben etablierte Möglichkeiten der Rechtsmobilisierung treten und bei Verwaltung, Gerichten und Verbänden Irritationen auslösen können, ist Digitalisierung auch hier keine „Naturgewalt“, sondern eher eine Suchbewegung. Diese Suchbewegung umfasst jedoch nicht erst seit der Pandemie auch den öffentlichen Sektor und Verbände, und sie wirft Fragen auf nach Anpassungen der unterschiedlichen Ansätze der Beratung und Rechtsdurchsetzung.