von Stephan Rixen | Mai 2021
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen im SGB II hat sich eine breite Debatte über Sanktionen in der Grundsicherung entfacht. Sie reicht bis hin zu der Forderung, generell auf Sanktionen zu verzichten. Doch kommt ein solidarisch organisierter Arbeitsmarkt wirklich ohne sozialrechtliche Sanktionen aus?
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 hat Bewegung in die Debatte über Sanktionen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) gebracht. Zwar sind auf dem Karlsruher Prüfstand nicht alle Sanktionsvorschriften des SGB II verfassungsrechtlich durchleuchtet worden (siehe hier im Beitrag von Sabine Knickrehm), aber es sind wohl die wichtigsten Sanktionsnormen gewesen (siehe Stephan Rixen: Abschied vom Sozialstaat der Sanktionen?, in: Die Sozialgerichtsbarkeit 1/2020, S. 1–8).
Alle Sanktionsvorschriften in der Grundsicherung stehen zur Diskussion
Inzwischen hat die Dynamik, die vom Karlsruher Urteil ausging, alle Sanktionen des SGB II erfasst. Aber nicht nur das: Die Dynamik geht über das SGB II hinaus. Es ist nur konsequent, auch die Sanktionsvorschriften im SGB XII (Sozialhilfe) (siehe dazu den Beitrag von Carsten Lund), im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) und im Recht der Arbeitsförderung (SGB III) genauer unter die Lupe zu nehmen. Dass diese Sanktionen in einem anderen rechtssystematischen Kontext eine Rolle spielen und in der Öffentlichkeit bei weitem nicht so intensiv diskutiert werden wie die Sanktionen des SGB II, mag sein. Aber sozialpolitisch geraten seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ausnahmslos alle sozialrechtlichen Sanktionen unter Verdacht. Der Gesetzgeber und das für die Gesetzesvorbereitung zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) befinden sich ganz klar in der Defensive, erst recht in einem Wahlkampfjahr, in dem sich – durch „Corona“ angeheizt – Themen der sozialen Ungleichheit bzw. der sozialen Gerechtigkeit besonderer Aufmerksamkeit sicher sein können.
Sanktionen als Symbol für einen hartherzigen Sozialstaat
Für die sozialpolitisch Verantwortlichen in BMAS und Bundestag ist die Lage ausgesprochen heikel. Sanktionen gelten nicht wenigen als Symbol eines hartherzigen Sozialstaats, der Menschen, die sich ohnehin schon in einer schwierigen Lage befänden, das Leben zusätzlich schwermache. In der Härte der Sanktionen, so meinen nicht wenige, spiegele sich ein „neoliberal“ entgleister Sozialstaat, der strukturelle Probleme einer kapitalistischen Marktwirtschaft individualisiere und Menschen per Sanktionen persönliche Verantwortung für Verhältnisse zuschiebe, die die Selbstwirksamkeit des Individuums offensichtlich übersteigen. Um die für ein kapitalistisches Wirtschaftssystem betriebsnotwendige Fiktion von Freiheit und Selbstverantwortung nach dem Motto „Jeder ist seines Glückes Schmied“ aufrechtzuerhalten – so die Kritik – würden mittels harter Sanktionen gleichsam symbolisch-bewusstseinsbildende Exempel statuiert, um das auf umfassend handlungsmächtige Individuen zugeschnittene „belief system“ kapitalistischen Wirtschaftens zu stabilisieren.
Bedingungsloses Grundeinkommen im Visier
Die Konsequenzen aus dieser Analyse sind unklar. Es gibt nicht wenige, für die ist das Urteil Anlass für sehr grundsätzliche Überlegungen, etwa die Forderung, verstärkt über die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) nachzudenken. In allerlei Varianten soll das BGE, so scheint es, Marxens Traum einer „kommunistischen Gesellschaft“ (diese Formulierung verwendet Marx bekanntlich explizit) Wirklichkeit werden lassen. Nur eine um das BGE zentrierte Gesellschaft mache es (vorgeblich) möglich, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe“, wie es in „Die deutsche Ideologie“ in den Marx-Engels-Werken (Band 3, S. 33), heißt. Die Finanzierung des Ganzen wird sich schon irgendwie ergeben.
In einer schrägen dialektischen Volte wird die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens auch von manchen tief kapitalismusgläubigen Unternehmern unterstützt. Das sollte einen stutzig machen, ohne dass es aber letztlich verwundern kann. Die Idee des BGE ist vor allem eine vage Vorstellung. Sie ist bislang nicht in wirklich operable Modelle überführt worden. Dass da manche Trittbrettfahrer auftauchen und der Idee einen spezifischen Spin geben, liegt nahe. Ein bedingungsloses Grundeinkommen lässt sich eben auch als Entlastungsmaßnahme für Unternehmen verstehen, die sich bei einem BGE leichter von scheinbar „unproduktiven“ Menschen trennen können, ohne dass es womöglich noch spezifische Verantwortungsbeziehungen gibt, die bislang in der Sozialversicherung ausbuchstabiert und durch ein Grundsicherungssystem wie das SGB II flankiert werden. Am Ende könnten alle, die irgendwie „stören“, in einer steuerfinanzierten Großgrundsicherung landen, die zig Sozialleistungen zusammenführt und das Gesamtniveau sozialstaatlicher Leistungen absenken dürfte.
Das vereinfacht vermutlich die finanziellen Belastungen vieler Unternehmen und macht vielleicht auch der staatlichen Sozialadministration das Leben leichter. Wie dieser administrative Umbau angesichts des „gegliederten System“ des deutschen Sozialstaats und all der Pfadabhängigkeiten – also diesseits von Utopia – bewerkstelligt werden soll, gilt als kleinkrämerische Frage, die – frei nach dem Karlsson-vom-Dach-Prinzip – keinen großen Geist stört.
Ideenpolitisch entscheidend ist aber, dass die Überzeugung über Bord geworfen wird, über die Erwerbsarbeit werde nicht nur Geld, sondern Selbstwert generiert. Selbstwert kann aber ohne eine anspruchsvolle Verantwortungsbeziehung des Arbeitgebers zu den erwerbstätigen Menschen kaum entstehen. Erwerbsarbeit als Quelle von Selbstwert und Ausdrucksfeld von Selbstbestimmung zu verstehen und zu fragen, welche Bedingungen gerade seitens des Nutznießers von Arbeit – des Arbeitgebers – erfüllt sein müssen, damit Erwerbsarbeit genau dies sein kann – Quelle von Selbstwert und Ausdrucksfeld von Selbstbestimmung –, das ist eine Frage, für die in der BGE-Welt kein Raum ist.
Balance von Eigenverantwortung und Solidarität
Ein dezidiert reformistischer Ansatz geht dieser Frage konsequent nach. Er bemüht sich immer wieder neu um eine faire Balance von Eigenverantwortung und gesellschaftlicher Solidarität, wenn es um die Gestaltung des Erwerbsarbeitslebens geht. Die große Leistung des Sozialstaats nach 1949 war und ist es, dass primär, solange es irgendwie geht, starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände in mitunter kämpferischer Sozialpartnerschaft die Quadratur des Kreises permanent angehen: über würdige Arbeitsbedingungen möglichst sinnvoll erlebbare Arbeit zu schaffen, die jenseits der Subsistenzsicherung Bedeutung für das eigene Selbstbild hat. All das vollzieht sich im Rahmen eines staatlichen Institutionensettings, das verhindert, dass die Wechselfälle des Lebens (insbesondere Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit) den Individuen als rein persönliche Angelegenheiten in die Schuhe geschoben werden. Dahinter steht der Gedanke, dass sich „Produktionsverhältnisse“ nur da menschengerecht bzw. menschenwürdig gestalten lassen, wo Menschen nicht auf ihre Arbeitskraft reduziert, sondern als Personen mit Bezügen und Aufgaben jenseits der Erwerbsarbeit ernstgenommen werden, aber eben auch als Personen, die sich in der Erwerbsarbeit entfalten.
Sanktionen können Verantwortungslosigkeiten sichtbar machen
Was hat das alles mit den Sanktionen im SGB II zu tun? Es hat – wie alles, worauf es ankommt – mit anthropologischen Vorannahmen zu tun, also mit Bildern davon, wie Menschen sein – also sich selbst verstehen – wollen. Wer Verantwortung, auch Eigenverantwortung, mit dem allzu leichtgängigen Vorurteil schlechtmacht, es sollten nur „neoliberale“ Zumutungen verkleidet werden, verkennt, dass Verantwortung etwas ist, was praktisch alle Menschen kennen und praktizieren, nicht immer perfekt, aber doch oft genug in gelingender Weise. Verantwortung wird damit zum Komplementärbegriff von Selbstbestimmung, von Freiheit. Verantwortung ist damit das Gegenteil von Bindungslosigkeit, meint ein wechselseitiges Achtungsverhältnis. Verantwortung einzufordern, heißt daher auch, bereit zu sein, darüber nachzudenken, ob es weniger verantwortungsvolles oder schlechterdings verantwortungsloses Verhalten gibt.
Sanktionen können Verantwortungslosigkeit folgenreich sichtbar machen. Wohldosierte, nicht zur Normalität werdende, sorgsam ausgesprochene, strikt verhältnismäßige Sanktionen sind Mittel, Verantwortung einzufordern, auch und gerade gegenüber denjenigen, die den Sozialstaat durch ihre Erwerbsarbeit wesentlich mitfinanzieren.
Es kommt auf die Verhältnismäßigkeit des Sanktionierens an
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist stark, wo es sich gegen Maßlosigkeiten beim Sanktionieren wendet, wo es minutiös die Verhältnismäßigkeit des Sanktionierens einfordert, wo es an die dunklen Seiten des Sanktionierens erinnert. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir rückwirkend wünschen, dass das Bundesverfassungsgericht noch etwas mehr zum Verhältnis von Eigenverantwortung und Sanktionen gesagt und auch den Sinn der Erwerbsarbeit deutlicher betont hätte. Sanktionen können nur ultima ratio – allerletztes Mittel – sein. Kommt ein solidarisch organisierter Arbeitsmarkt wirklich ohne jede sozialrechtliche Sanktion aus? Ich bin skeptisch und wünsche mir einen angstfreien Austausch über diese Frage.