Wie Henrike Weber vom Steuerrecht zum Sozialrecht kam
Henrike Weber im Interview | März 2021
Henrike Weber (53) hat als Juristin schon einige Stationen hinter sich.
Angefangen hat sie in der Finanzverwaltung. Dann wechselte sie in eine Rechtsanwaltskanzlei und jetzt arbeitet sie als Rechtsanwältin (Syndikusanwältin), Fachanwältin für Sozialrecht und sozialpolitische Referentin beim Sozialverband VdK.
Netzwerk Sozialrecht: Wie sind Sie zum Sozialrecht gekommen?
Weber: Ursprünglich hatte ich nach meinen beiden juristischen Staatsexamen viel mit Zivilrecht zu tun und war in der Finanzverwaltung im Land Brandenburg mit Steuerrecht befasst. Aus persönlichen Gründen wollte ich nach Berlin wechseln. Es ergab sich diese Möglichkeit durch eine Tätigkeit in einer Rechtsanwaltskanzlei. Diese vertrat unter anderen Nebenkläger*innen in Strafverfahren, typischerweise also Opfer von Straftaten. Diese Opfer hatten großen Bedarf an Rechtsberatung und Unterstützung – vor allem bei Themen wie Schwerbehinderung, Erwerbsminderungsrenten, Opferhilfe bzw. -entschädigung. Darüber kam es zu einem schnellen Einstieg in diese Fragen. Ich entschloss mich wegen der Vielzahl der Fälle diesen Schwerpunkt zu bearbeiten. Bald führte das dazu, dass ich die Qualifikation als Fachanwältin für Sozialrecht anstrebte. Dafür muss man ja in einer gewissen Zeit eine bestimmte Anzahl von Fällen bearbeiten. Das passte gut. Und ich lernte das Rechtsgebiet so systematisch kennen. Das war eine Hilfe.
Netzwerk Sozialrecht: Hat man mit Sozialrechtsfällen als Rechtsanwältin ein gutes Auskommen?
Weber: Sozialrecht allein in einer Kanzlei trägt sich nicht. Man braucht eine Kombination mit dem Sozialrecht – etwa mit Medizinrecht oder Arbeitsrecht. Denn viele Kläger*innen haben keine Rechtsschutzversicherung oder brauchen Prozesskostenhilfe (PKH). Anders stellt es sich aber dar, wenn die Mandatsstruktur zum Beispiel durch Ärzte geprägt ist. Dann geht es um das Kassenarztrecht und vielfach auch um das Medizinrecht. Und damit ist das Auskommen in der Kanzlei besser.
Netzwerk Sozialrecht: Macht es Freude, als Rechtsanwältin für die Opfer tätig zu sein?
Weber: Für mich ist es wichtig, am Puls des Lebens zu sein. Es geht ja immer um konkrete Fälle von Menschen, die Unterstützung brauchen. Opfer sind oftmals gebeutelt und so geschockt oder sogar traumatisiert von ihrem Erlebnis, dass sie lange brauchen, bis sie wieder etwas zu Wege bringen. Auf diesem Weg brauchen Sie Unterstützung. Inhaltlich sind medizinische Sachverhalte wichtig. Das finde ich interessant. Ich finde es schön, dabei zu sein, wenn Menschen wieder Mut fassen oder – wenn auch oft spät – zu ihrem Recht kommen.
Netzwerk Sozialrecht: Lassen sich Beruf und Familie bei der Rechtsanwaltstätigkeit miteinander vereinbaren?
Weber: Ja. Das war bei mir in diesem Zusammenhang sehr gut möglich. Die Termine vor den Sozialgerichten sind langfristig terminiert und es gab damals in diesem Teilausschnitt des Sozialrechtes auch so gut wie keine Eiltermine. Und die Termine für Mandantenbesprechungen kann man sich ja selbst legen. Außerdem wurden damals in unserer Kanzlei in Zusammenarbeit mit einem Strafrechtler, der die Nebenklage bearbeitete, bereits wichtige Aspekte des Sachverhaltes aufgenommen.
Netzwerk Sozialrecht: Sie haben aber dann die Rechtsanwaltskanzlei verlassen und sind zum Landesverband Berlin-Brandenburg des Sozialverbandes VdK gewechselt? Was haben Sie da zunächst gemacht?
Weber: Ich war ganztägig in der Rechtsberatung und hatte sehr viel Mandantenkontakt. Denn unsere Mitglieder beraten wir und wir führen Beschwerden oder Verfahren vor den Sozialgerichten. Dabei geht es primär um Fragen der Schwerbehinderung und der Erwerbsminderung, aber auch um Verfahren gegen die Krankenkassen. Und natürlich sind auch Rehabilitationsfragen von Bedeutung, also Fragen zur medizinischen Reha und solche zu Umstellungen der Arbeitstätigkeit, zu Hilfsmitteln am Arbeitsplatz oder zu Streitigkeiten um die Pflegegrade. Oder es geht um Arbeitsunfälle. Insgesamt beschäftige ich mich also mit einer großen Palette sozialrechtlicher Fragestellungen.
Netzwerk Sozialrecht: Ist da viel zu tun? Sind die Belastungen groß?
Weber: Ja. Es gibt viele Formen der Beratung, entweder telefonisch oder persönlich vor Ort. Oft ist leider wenig Zeit für sehr detaillierte und auch komplizierte Fragen. Bei den sogenannten persönlichen Sprechstunden, die ich auch mache, ist es manchmal aber auch nicht einfach, weil es sich dabei auch um Menschen handelt, die schwer an ihren Krankheiten leiden oder erhebliche Einschränkungen haben. Deshalb ist oft die Kommunikation nicht leicht. Man braucht eine gute Resilienz. Dann ist das aber zu schaffen.
„Ich trete sehr gerne vor den Sozialgerichten auf“
Netzwerk Sozialrecht: Wie ist die Vertretung vor den Sozialgerichten? Gibt’s Unterschiede zu anderen Gerichtsbarkeiten?
Weber: Ich trete sehr gerne vor den Sozialgerichten auf. Es ist anders als vor den Zivilgerichten. Dort hat man mehr mit Rechtsanwält*innen zu tun, hier sind auf der anderen Seite ausschließlich Behördenvertreter*innen. In der Sozialgerichtsbarkeit ist richtiges Verhandeln in der Sache möglich. Der Sachverhalt wird sehr sorgfältig eruiert und darauf aufbauend dann rechtlich diskutiert. Die Art und Weise, wie sich die Sozialrichter*innen darum bemühen, dass die Betroffenen zu Wort kommen, finde ich sehr gut. Auch können Anträge nachformuliert werden und das Gesprächsklima ist einfach für alle angenehmer als im zivilrechtlichen Verfahren.
Netzwerk Sozialrecht: Gibt es noch weitere Unterschiede zu anderen Rechtsgebieten?
Weber: Ganz besonders wichtig ist die im Sozialrecht sehr effektiv bestehende Möglichkeit, auch außerhalb der Widerspruchsfrist noch Anträge zur Aufhebung des Bescheides stellen zu können. Das ist nach § 44 SGB X möglich. Denn schwer belastete Personen, wie zum Beispiel Opfer einer Gewalttat, können oftmals erst später handeln. Und dann ist die Frist zum Widerspruch meist schon längst abgelaufen.
Netzwerk Sozialrecht: In Ihrer Stelle beim VdK Berlin-Brandenburg sind Sie zudem noch als sozialpolitische Referentin für den Landesverband tätig. Was ist da Ihr Aufgabenfeld?
Weber: Ziel meiner sozialpolitischen Arbeit im Auftrage des Landesverbandes ist es, unsere Erkenntnisse für notwendige Unterstützungen unsere Mitglieder und ihre Anliegen in den Ländern Berlin und Brandenburg in die Politik oder die dafür vorgesehenen Gremien einzubringen und dadurch Verbesserungen zu erreichen. Das bedeutet etwa zu Fragen der Digitalisierung für Menschen mit Behinderung Stellung zu nehmen oder auch Forderungen an die Landesregierung und Landesgesetzgebung zu richten.
Netzwerk Sozialrecht: Können Sie dafür Beispiele nennen?
Weber: Aktuell geht es zum Beispiel auch darum, über den Landesbehindertenbeirat Brandenburg Einfluss auf die Rahmenvertragsregelungen in der Eingliederungshilfe zu nehmen.
Netzwerk Sozialrecht: Was gibt es noch?
Weber: Ein weiteres Beispiel ist die Zusammenarbeit mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband in Berlin. Wir wollen gemeinsam darauf drängen, dass es in Fragen der Diskriminierung durch öffentlich-rechtliches Handeln der Berliner Verwaltung der bereits dafür eingerichteten Ombudsstelle auch ermöglicht wird, Schlichtungen in diesen Fragen durchzuführen.
Netzwerk Sozialrecht: Nehmen Sie auch zu Gesetzesvorschlägen Stellung?
Weber: Ab und an. In der Regel geschieht dies über die Einbindung in die Gremien.
Netzwerk Sozialrecht: In welchen Gremien denn?
Weber: Ich bin zum Beispiel Mitglied des Behindertenbeirates in Brandenburg. Wichtige Änderungen von Landesgesetzen oder Verordnungen werden dort besprochen. Auch kann es um die Weitergabe von Informationen gehen. In jedem Fall ist eine Vernetzung der Betroffenenverbände wertvoll.
„Haben Sie den Mut, bekannte Pfade zu verlassen!“
Netzwerk Sozialrecht: Gibt es auch Bereiche bei Ihrer Arbeit, die Sie eher frustrieren?
Weber: Sozialrechtsfälle dauern oftmals sehr, sehr lange. Und da vergisst man oft die Einzelheiten des Sachverhaltes und muss sich immer wieder neu in die durchaus dicken Akten und Gutachten vertiefen. Das ist sehr aufwendig. Zudem geht es eben um sehr viele medizinische Fragen. Das muss man mögen, sonst wird’s eng. Frustrierend kann sein, wenn eine Klägerin, die Prozesskostenhilfe erhält, ein negatives Gutachten bekommt und es kein Geld gibt, um eine zweite gutachterliche Prüfung durchführen zu lassen. Und auch sonst nervt natürlich die Allmacht der Gutachter*innen, wenn sie nicht für meinen Mandaten positiv begutachten! (lacht).
Netzwerk Sozialrecht: Machen Sie sich Sorgen um unser Sozialsystem?
Weber: Ja, schon. Denn wir driften für große Teile der Bevölkerung in Richtung Verarmung. Und das ist nicht gut. Gerade diejenigen, die früh ins Erwerbsleben gestartet sind – etwa mit einer Berufsausbildung schon mit 15 Jahren – haben oftmals massive gesundheitliche Probleme. Bei solchen Erwerbsbiografien kommt es häufig vor, dass die Erwerbsminderungsrente schon weit vor der Rente mit 67 zur Debatte steht. Und für viele ist dann die Erwerbsminderungs- und auch die Altersrente sehr niedrig. Und dann stellt sich eben auch die Frage: Wie soll das weitergehen für die nächste Generation?
Problematisch finde ich auch das Fortbestehen des privaten Krankenkassenwesens (PKV). Das ist vor allem im Alter teuer für die Versicherten und die PKV kann sich eh nicht mehr gut finanzieren. Besser wäre eine Versicherung für alle, also auch mit Beamt*innen und Selbstständigen.
Netzwerk Sozialrecht: Wollen Sie sich beruflich nochmals verändern?
Weber: Ich bin sehr zufrieden mit meinem Zuschnitt: Einerseits Mandate und Kontakt zum Leben – mit dem schönen Gefühl, Einzelfallgerechtigkeit schaffen zu können und andererseits politische Weichenstellungen mit zu beeinflussen. Das soll so bleiben. Da will ich nichts von lassen!
Netzwerk Sozialrecht: Zum Abschluss: Was empfehlen Sie Studierenden und Referendar*innen?
Weber: Haben Sie den Mut, die von der Uni und dem Referendariat bekannten Pfade zu verlassen! Dann wird sich Ihnen eine Fülle von Möglichkeiten eröffnen, die Sie mit Ihrer sehr soliden Ausbildung gut erschließen können.
Netzwerk Sozialrecht: Wie danken Ihnen für das Gespräch.