Für die Zukunft des Sozialrechts

Brief des Netzwerkes Sozialrecht an die Justizminister der Länder

Netzwerk Sozialrecht | 1. November 2019

Bereits auf der Herbstkonferenz 2016 hat die Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister (JuMiKo) einen Bericht zur Fortentwicklung des juristischen Studiums abgegeben. Daraus ergaben sich weitere Prüfaufgaben an den Ausschuss zur Koordinierung der Juristenausbildung. Die Teilergebnisse führten schon auf der Herbstkonferenz 2017 zu einem Beschluss, der eine Vereinheitlichung und Begrenzung des Pflichtstoffs sowie eine Begrenzung des Umfangs des Schwerpunktbereichsstudiums und Angleichung der diesbezüglichen Prüfungsleistungen beinhaltet. Bereits dieser Prozess wurde mit Blick auf das Sozialrecht u. a. von der Sozialgerichtsbarkeit, den Verbänden, der Wissenschaft und der Anwaltschaft kritisch begleitet. Der Deutsche Sozialgerichtstag e. V. und der DGB z. B. haben diesen Beschluss kritisiert und darauf hingewiesen, dass die vorgesehenen Änderungen im Schwerpunktbereich eine gravierende Verschlechterung der sozialrechtlichen Ausbildung zur Folge haben werden und der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des Sozialrechts nicht gerecht werden. Die Kritik an der Reduzierung der Wochenstunden im Schwerpunktstudium wird ebenso von den dem Arbeitsrecht Verbundenen geübt. Exemplarisch sei auf die Äußerungen der Präsidentinnen und Präsidenten der Landesarbeitsgerichte und den Deutschen Arbeitsgerichtsverband e. V. verwiesen.

Auf die Bedeutung des Sozialrechts für die Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunft wurde durch die genannten Verbände hingewiesen. Ebenso auf die Ausstrahlung des Sozialrechts in alle anderen Fachgebiete des Rechts. Beratende Berufe müssen ebenso wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Prozessvertreterinnen und Prozessvertreter, Gerichte und Verwaltungen immer auch die sozialrechtlichen Folgen von Gestaltungen beispielsweise im Wirtschaft-, Steuer-, Arbeits- oder Familienrecht im Blick haben.

Im weiteren Prozess hat die JuMiKo den Koordinierungsausschuss mit weiteren Evaluierungen und der Erarbeitung von Empfehlungen beauftragt. Sie werden auf der 90. Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 7. November 2019 über die Ergebnisse beraten.

Das Netzwerk Sozialrecht unterstützt die zwischenzeitlich dazu vom Deutschen Sozialrechtsverband e. V. und Deutschen Sozialgerichtstag e. V. erhobene Forderung das Sozialrecht in der juristischen Ausbildung entsprechend seiner Bedeutung für unsere Gesellschaft  zu stärken und das Sozialrecht und Sozialverwaltungsverfahrensrecht in den Pflichtstoffkatalog für die Erste juristische Prüfung aufzunehmen sowie das Sozialrecht im Schwerpunktbereich nachhaltig zu stärken. Hierzu wurde u. a. vorgeschlagen dies durch eine Änderung von § 5a Abs. 2 Satz 3 DRiG zu regeln und Grundzüge des Arbeits-, Sozial- und Steuerrechts in den Pflichtstoffkatalog einzufügen.

Diese Forderung wird unterstützt durch den einstimmig gefassten Beschluss der 92. Gesundheitsministerkonferenz vom 5. und 6. Juni 2019:

„Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Gesundheit der Länder bitten die JUMIKO, die Möglichkeit der Aufnahme von Grundzügen des Sozialrechts und Sozialverwaltungsverfahrensrechts in den Pflichtstoffkatalog der juristischen Ausbildung sowie weitere Maßnahmen zur Stärkung des Sozialrechts im universitären Schwerpunktbereich zu prüfen.“

Ebenso haben die Präsidentinnen und Präsidenten der Landessozialgerichte zutreffend darauf hingewiesen, dass es unerlässlich ist, den Stellenwert des Sozialrechts in der juristischen Ausbildung zu stärken, um der überragenden gesellschaftlichen und ökonomischen Bedeutung des Sozialrechts gerecht zu werden.

Gesellschaftlich sind die Menschen in Deutschland jederzeit mit dem Sozialrecht, seinen einzelnen Fachgebieten sowie den Schnittstellen innerhalb des Sozialrechts und zu anderen Rechtsgebieten konfrontiert. Für Eltern und ihre Kinder beginnt dies bereits vorgeburtlich und für Hinterbliebene gilt dies noch nach dem Ableben von Familienangehörigen. Die Vielgestaltigkeit der vom Sozialrecht geregelten Lebensbereiche und -situationen spiegelt die besondere Bedeutung und zugleich hohe Komplexität des Rechtsgebiets wider, das nicht ohne Grund einer eigenen Gerichtsbarkeit unterliegt. Zugleich folgt aus der Vielgestaltigkeit und Komplexität des Sozialrechts für die Menschen ein umfassender Bedarf an professioneller Beratung und Vertretung zur Durchsetzung ihrer Ansprüche. Zur Lösung der damit verbundenen Fragen bedarf es daher ausreichend besetzter Verwaltungen, Gerichte und Lehrstühle. Dies bedingt eine hohe Nachfrage an im Sozialrecht gut ausgebildeten Juristinnen und Juristen in den verschiedensten Professionen. Die Rekrutierung von im Sozialrecht gut ausgebildeten Juristinnen und Juristen für die verschiedenen Professionen wird bereits aufgrund der derzeitigen Bedingungen der juristischen Ausbildung immer schwieriger und vermag die hohe Nachfrage nicht hinreichend zu decken.

Noch deutlicher lässt sich die Bedeutung des Sozialrechts in Deutschland ökonomisch illustrieren. Das Sozialbudget entspricht ca. einer Billion Euro und damit etwa einem Drittel des Bruttonationaleinkommens. Der Bundeshaushalt wird vom Bereich Arbeit und Soziales überdeutlich dominiert. Das Gesundheits- und Sozialwesen bietet 5,2 Millionen Menschen Arbeitsplätze, also etwa 11,5 % der Erwerbstätigen, nicht eingerechnet die mehreren zehntausend Beschäftigten der Sozialversicherungsträger und öffentlichen Verwaltung.

Soweit der Koordinierungsausschuss es ablehnt, das Sozialrecht in den Pflichtfachkanon aufzunehmen, kann der Begründung nicht annähernd gefolgt werden. Darin wird behauptet, das Sozialrecht sei ungeeignet, das Ziel der juristischen Ausbildung zu erreichen. Dieses Ziel bestehe u. a. darin, Methodik und Systematik der juristischen Denkweise zu vermitteln, die es den angehenden Juristinnen und Juristen ermöglicht, sich in jedes Rechtsgebiet einzuarbeiten und es zu durchdringen. Das Sozialrecht sei – so weiter – nicht geeignet, in besonderer Weise zum exemplarischen und /oder methodischen Lehren und Lernen beizutragen.

Dem ist entgegenzuhalten, dass gerade aus rechtswissenschaftlichen und berufspraktischen Gründen dem Sozialrecht Prüfungsrelevanz zuzusprechen ist. Besonders an den Schnittstellen verschiedener Rechtsgebiete und der Fachgebiete des Sozialrechts müssen sich dogmatische und methodische Kenntnisse bewähren. Als besonderer Teil des öffentlichen Verwaltungsrechts bietet das Sozialrecht mit seinen Verbindungen zum Privatrecht, insbesondere dem Haftungs-, Familien- und Arbeitsrecht, zahlreiche ausbildungs- und prüfungsgeeignete Lebenssachverhalte. Von der klassischerweise im Mittelpunkt der Ausbildung stehenden Eingriffsverwaltung unterscheidet sich das Sozialrecht mit seiner Normstruktur für die Leistungsverwaltung zudem exemplarisch und sehr deutlich. Auf diesen Aspekt hat der im Wesentlichen rechtswissenschaftlich geprägte Deutsche Sozialrechtsverband e. V. ausdrücklich hingewiesen.

Das zweite bekannte Argument des Koordinierungsausschusses, es sei im Rahmen des Schwerpunktbereichsstudiums ohne Weiteres möglich, sich im Sozialrecht durch die dortige  kritische und wissenschaftliche Vertiefung zu qualifizieren und diese Profilbildung im juristischen Vorbereitungsdienst fortzusetzen, steht im Widerspruch zu den bereits gefassten und kritisierten Beschlüssen. Danach soll die im Schwerpunktbereich erreichte Note nur noch mit 20% statt 30% in die Gesamtnote einfließen. Aufgrund dessen sollen die vorgesehenen Semesterwochenstunden im Schwerpunktbereich von derzeit 16 auf 10 bis 14 herabgesetzt werden. Eine Förderung des Sozialrechts wird damit gerade nicht erreicht. In der Praxis stellen Anbieter des juristischen Vorbereitungsdienstes daher fest, dass Studierende angebotene Referendariate in sozialrechtlich geprägten Bereichen nicht nachfragen.

Das Netzwerk Sozialrecht fordert daher eine der gesellschaftlichen und ökonomischen Bedeutung entsprechende Berücksichtigung des Sozialrechts in der juristischen Ausbildung und bittet Sie, sich für deren zukunftsgerechte Reform einzusetzen.

Das Netzwerk Sozialrecht ist eine Plattform aller mit dem Sozialrecht Befassten aus der Sozialgerichtsbarkeit, der Wissenschaft, den Verbänden und von den Leistungsträgern. Ziel der Plattform ist es, Informationen aus allen Bereichen des Sozialrechts zusammenzuführen und den im Sozialrecht tätigen Akteuren so die Möglichkeit zu geben, ihre für notwendig angesehenen Aktivitäten zu bündeln. Nur so können die zukünftigen Herausforderungen des Wandels in allen Bereichen unserer Gesellschaft gestaltet und ein ständig anzupassendes und zu modernisierendes Sozialrecht auf den Weg gebracht werden.

Mit freundlichen Grüßen

Mitglieder der Steuerungsgruppe des Netzwerkes Sozialrecht

Dr. Nadine Absenger, DGB
Birgit Apitzsch, SOFI Göttingen
Alice Dillbahner,  Universität Kassel
Prof. Franz Josef Düwell, Vors. Richter am BAG a.D.
Dr. Daniel Hlava, HSI Frankfurt a. M.
Prof. Dr. Daniel Klocke, EBS Universität Wiesbaden
Sabine Knickrehm, Vor. Richterin am BSG
Vasco Knickrehm, Direktor SG Kassel
Dr. Christan Mecke, Richter am BSG
Dr. Irina Mohr, FES
Robert Nazarek, DGB
Helga Nielebock, Ass. jur.
Prof. Dr. Stephan Rixen, Universität Bayreuth
Prof. Dr. Berthold Vogel, SOFI Göttingen