Online-Fachtagung des Netzwerkes am 13. April
von Eberhard Eichenhofer | April 2021
Das Netzwerk Sozialrecht veranstaltet am 13. April 2021 eine Video-Konferenz: „Familienförderung durch Sozialrecht“ lautet der Titel der Online-Fachtagung. Sie findet am Nachmittag zwischen 14:00 und 16:30 Uhr statt. Die Teilnahme ist für alle Interessierten online möglich und jede und jeder ist herzlich eingeladen. Informationen zur Anmeldung finden Sie im Programm.
Worum geht es?
Der Schutz der Familien wird durch Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gefordert. Dieser Auftrag ist seit jeher ein Anliegen des Sozialrechts. Denn der Sozialstaat bezog traditionell auch familiäres Leben in seine Regelungen ein. Dies geschah (und geschieht) zum Beispiel durch
- die Familienversicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung,
- die Hinterbliebenenversorgung in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung sowie im sozialen Entschädigungsrecht,
- die Familienkomponenten der Arbeitslosenversicherung und
- die Grundsicherung und das Kindergeld, wo die Familienkomponenten besonders stark ausgeprägt sind.
Diese Regeln familienfördernden Sozialrechts entstanden vor dem Hintergrund des herkömmlichen Familien-Ernährer-Modells, welches auf der Arbeitsteilung der Geschlechter aufgebaut war und den Männern die entgoltene Erwerbsarbeit und den Frauen die unentgeltliche Sorgearbeit zugewiesen hatte.
Heute – im Zeichen der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG) – gilt dieses Modell als überwunden. Jedenfalls geht das geltende Recht von der vollen Erwerbsbeteiligung beider Geschlechter aus. Diese Annahme ist inzwischen in Ost- wie Westdeutschland sozial und rechtlich als soziale Grundregel akzeptiert. Art. 33 Abs. 2 der Europäischen Grundrechtecharta formuliert als ein soziales Menschenrecht die Förderung der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit und gibt den Mitgliedstaaten auf, diese zu sichern und also zu ermöglichen.
Die Tagung des Netzwerkes Sozialrecht wird von der Frage geleitet: Genügt das geltende Sozial- und Arbeitsrecht mit seinen zahlreichen Neuerungen aus den jüngsten Jahrzehnten – namentlich der arbeitsrechtlichen Begleitung der Sorgearbeit durch Ansprüche auf Arbeitsfreistellung zur Wahrnehmung von Sorgeaufgaben, der Einführung und Ausweitung von Elternzeit und Elterngeld, den in vergangenen Jahrzehenten geschaffenen Ansprüchen auf Kinderbetreuung und den Regelungen in der Pflegeversicherung – dem Anspruch auf die gleichberechtigte Teilhabe von Männern und Frauen am Erwerbsleben?
Es sollen Unzulänglichkeiten des geltenden Rechts und Reformperspektiven für dieses artikuliert werden. Die Leitperspektive der Tagung gilt der Frage, inwieweit Sozialrecht durch seine Regeln und Mittel die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit sichert und damit ein selbstbestimmtes Familienleben zureichend ermöglicht. Außerdem befasst sich die Online-Konferenz mit dem Thema „Kinderarmut“, was doppeldeutig ist, weil sie die Armut an Kindern und die Armut von Kindern bedeuten kann.
Im Zentrum der von Prof. Dr. Dr. h. c. Eberhard Eichenhofer moderierten Tagung stehen drei Themen:
1. Fällt dem Beitragsrecht der Sozialversicherung bei der Familienförderung eine tragende Rolle zu?
2. Ist die Hinterbliebenenversorgung angesichts der Überwindung des traditionellen Familienernährer-Modells neu auszurichten?
3. Ist das Existenzsicherungsrecht hinlänglich zur Förderung von Familien geeignet?
1. Familienförderung durch Beitragsgerechtigkeit
Dieses erste Thema wird von Prof. Dr. Anne Lenze, Professorin für Familien-, Jugendhilfe- und Sozialrecht am Fachbereich Sozialpädagogik der Hochschule Darmstadt, vorgestellt und erörtert. Ihrem Referat schließt sich ein kurzer Kommentar von Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf an, die einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insb. Sozialrecht, Öffentliches Wirtschaftsrecht und Verwaltungswissenschaft an der Universität Hannover hat.
Würde Familienförderung – über die Pflegeversicherung hinaus (hier zahlen Versicherte mit Kindern einen um 0,25 Prozentpunkte reduzierten Beitrag) – in allen Zweigen der Sozialversicherung durch Beitragsentlastungen zugunsten von Familien verwirklicht, müsste nicht nur die Ausgestaltung dieser Förderung präzisiert und auf ihre Verteilungswirkungen unter den Familien konkretisiert und analysiert werden. Es müsste dann auch die Frage beantwortet werden, auf welche Weise den Sozialversicherungsträgern die durch Beitragsvergünstigungen zugunsten von Familien eintretenden Lasten ausgeglichen werden.
Wie verhalten sich Familienförderung durch Sozialrecht – in Gestalt von Kindererziehungszeiten – und die Finanzierung der Sozialleistungen durch eine grundsätzlich (und nur bei Midi-Jobs eingeschränkte) einkommensproportionale Finanzierung? Ist auch im sozialversicherungsrechtlichen Beitragsrecht die unterschiedliche Belastbarkeit von Familien und Nichtfamilien und unter den Familien solche mit wenigen und vielen Kindern zu berücksichtigen?
2. Hinterbliebenenversorgung neu ausrichten
Dieses zweite Thema der Tagung wird von Prof. Dr. Maria Wersig, Professorin für Rechtliche Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Hochschule Hannover, behandelt. Ingo Schäfer, Referatsleiter für Alterssicherung und Rehabilitation beim DGB-Bundesvorstand, wird ihr Referat kommentieren.
Bei der Frage nach der Zukunft der Hinterbliebenenversicherung steht im Mittelpunkt der Diskussion das Prinzip abgeleiteter Sozialversicherungsansprüche. Es geht dabei namentlich um die rechtspolitische Berechtigung der für Ehegatt*innen, Lebenspartner*innen und Kinder abgeleiteten Ansprüche aus dem Stammrecht von mit ihnen verwandten Versicherten oder Entschädigungsberechtigten. Sind solche Ansprüche in Zukunft verzichtbar? Und ist das, was für die inzwischen vielfach erreichte wirtschaftlich unabhängige Stellung von Witwen und Witwern zu sagen wäre, auch auf die Waisen zu übertragen? Was hieße es – zusammengefasst –, wenn die Sozialversicherung strikt nur noch individualisierte Ansprüche hätte und was würde daraus für das familienfördernde Sozialrecht im Allgemeinen folgen?
3. Existenzsicherungsrecht von Familien durch Sozialrecht im SGB II
Dies ist das dritte Thema der anstehenden Online-Fachtagung des Netzwerkes Sozialrecht. Es wird von Dr. Björn Harich, Richter am Bundessozialgericht, eingeleitet. Seine Ausführungen werden von Dr. Marie-Claire Senden, zuständige Leiterin im Referat „Grundsatzfragen der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) – eingeordnet und kommentiert.
Auch beim Recht der Existenzsicherung stellt sich – ähnlich wie bei der Hinterbliebenenversorgung – die Frage, wie weit Ansprüche individualisiert sein oder sich an familiären Bedarfsgemeinschaft ausrichten sollten. Das Existenzsicherungsrecht zieht derzeit bei der Leistungsbemessung die Lebenslagen – namentlich Einkommens- und Vermögensverhältnisse – von sämtlichen, in einem Haushalt zusammenlebenden Familienangehörigen heran. Zu diesem Modell steht der Vorschlag einer Kindergrundsicherung in Konkurrenz und bildet eine konzeptionelle Alternative (mehr dazu z. B. hier). Dort werden die Anspruchsvoraussetzungen für die Sicherung isoliert aus der Lebenslage des zu sichernden Kindes entwickelt – ohne Rücksicht auf die Bedarfsgemeinschaft.
Bei der Frage nach der angemessenen Sicherung von Kindern in einkommensschwachen Haushalten sind viele Fragen offen. Jüngst stand zur Diskussion, wer für eine zureichende Versorgung bedürftiger Schulkinder mit Tablets im Rahmen des digitalen Unterrichts aufkommen muss: der Grundsicherungsträger oder die Schule? Sind die praktischen Vollzugsschwierigkeiten für die zahlreichen Teilhabeleistungen für Kinder aus bedürftigen Familien (Sport, Musik, Kunst) inzwischen behoben? Sind die Regelsätze für Kinder – inzwischen erhöht – nun endlich richtig und damit bedarfsgerecht bestimmt? Ist der Kindergeldzuschlag für Kinder aus ärmeren Familien nach den jüngsten Reformen für die zu fördernden Familien zu durchschauen und damit hinlänglich einfach zu erlangen?
Grundfragen der sozialen Sicherheit und des Verfassungsrechts
Die Initiator*innen der Konferenz wollen mit dieser Fachtagung zentrale Fragen der Sozialpolitik aufzugreifen, welche die im Berufsleben stehenden und wegen ihrer Beteiligung an Erwerbs- und Sorgearbeit im wahren Sinne „aktiven“ Generation betreffen und berühren. Die ausgewählten Themen greifen Grundfragen der sozialen Sicherheit wie des Verfassungsrechts auf. Sie sind im Hinblick auf anstehende Gerichtsverfahren und Gesetzgebungsverfahren von aktueller Bedeutung. Sie werfen aber auch Grundsatzfragen nach der Fortentwicklung der Finanzierung und der Struktur der Leistungen der sozialen Sicherheit auf.
Sozialpolitisch Interessierte könnte das Programm auch deshalb ansprechen, weil die drei genannten Themenkomplexe Fragen aktueller Reformvorhaben aufwerfen und darüber hinaus Grundfragen einer teilweisen Neuausrichtung des Sozialrechts bezeichnen, die in dem jetzt beginnenden Bundestagswahlkampf zur Diskussion stehen dürften und dann die Debatte bestimmen werden. Die Tagung sollte daher nicht nur aktuelle wie grundsätzliche Fragen aufgreifen, sondern auch mögliche und in der nächsten Wahlperiode des Bundestages aufzugreifende Reformvorhaben umreißen.
Die per Video über das Internet zugeschalteten Teilnehmer*innen der Fachtagung werden die Gelegenheit erhalten, zu den Ausführungen der Referent*innen und Kommentator*innen Stellung zu nehmen.