Von Eberhard Eichenhofer | 22. Mai 2024
In diesen Wochen wird in Europa Bilanz gezogen: In den diesjährigen Wahlen zum Europäischen Parlament werden die Weichen in Europa für die nächsten fünf Jahre gestellt. Was haben Kommission, Rat und Parlament in der Sozialpolitik während der letzten fünf Jahre zustande gebracht, was blieb liegen und ist deshalb von der Kommission künftig zur Erledigung für Rat und Parlament vorzubereiten?
1. Europa steht vor einer Wahl
Die Wahlen markieren eine Zäsur in der jüngeren Entwicklung der EU. Denn Europa sieht sich vor die Wahl gestellt, ob es sich auch in Zukunft in den bisherigen Bahnen fortentwickeln möchte oder nicht. Selten zuvor war die Disruption der EU-Entwicklung ähnlich wie dieses Mal eine in Betracht kommende Möglichkeit. Nun steht sie zur Wahl!
In ihrer jüngsten Entwicklung erlangte die Sozial- und Umweltpolitik in Europa in Gestalt der Säule sozialer Rechte und des Green Deal eine große Bedeutung. Nun steht die Frage zur Wahl: Werden diese Themen auf künftig und weiter im Einklang mit den in der Vergangenheit gesetzten Akzenten behandelt werden oder rücken andere Fragen in den Vordergrund der EU-Politik? Für die Gesellschaft der EU hängt davon viel ab. Das Mandat der bisherigen Kommission wird jedenfalls alsbald enden und eine neue Kommission wird danach zu bilden sein.
2. Bewegte Jahre fanden einige sozialpolitische Antworten
Die Sozialpolitik der EU der zurückliegenden fünf Jahre war jedenfalls umtriebig. Die Kommission leitete das ungebrochene Bemühen, Europa in der Sozialpolitik voranzubringen. Die 2017 etablierte „Europäische Säule sozialer Rechte“ fasste die anerkannten sozialen Rechte als Gewährleistungen von Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, fairen Arbeitsbedingungen, sozialem Schutz und Inklusion in insgesamt 20 sozialen Rechten zusammen. Sie schuf damit neben denen von UN und Europarat sowie den anerkannten sozialen Grundrechten in der EU-Grundrechtecharta ein weiteres System sozialer Menschenrechte.
Die Europäische Säule sozialer Rechte hält nicht nur das bereits vor Jahrzehnten Erreichte fest, sondern regte auch die Fortentwicklung europäischer Sozialpolitik maßgebend an. Kommission, Rat und Parlament ergriffen in den letzten fünf Jahren verschiedene Initiativen, welche in den Absichtsbekundungen der Säule ihren Ausgangs- und Endpunkt fanden: Die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne und zur Stärkung der Tarifbindung und die Empfehlung für Mindestsicherungssysteme dienen der Armutsbekämpfung. Vorschläge zur Plattformarbeit greifen ein durch die technische Entwicklung getriebenes aktuelles Thema auf. Sie harmonieren mit der Datenschutz-Grundverordnung und geben den digitalen Diensten und deren Wirtschaft damit eine rechtliche Struktur auf der Grundlage des EU-Rechts.
Die COVID-19-Pandemie und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine lösten im Binnenmarkt krisenhafte Erschütterungen aus. Sie gehen auf veränderte Bedingungen der Weltwirtschaft zurück. Die Anstrengungen zur Dekarbonisierung der Produktion hinterließen auch in der Sozialpolitik ihre Spuren. Das SURE-Programm verbreitete europaweit das Kurzarbeitergeld als arbeitsmarktpolitisches Instrument in der Produktions- und Absatzkrise; es förderte die Einkommenssicherung für die Beschäftigten und stabilisierte damit die Beschäftigung. Die Pandemie schärfte das Bewusstsein für die Gefährdung der gesundheitlichen Versorgung durch globale Lieferketten. Seither sucht die EU dagegen Abhilfe durch europäische Kooperation. Hoffentlich bleibt sie nicht auf Absichtsbekundungen beschränkt.
Die krisenbedingte Verteuerung der Energie löste eine Inflation aus und erschütterte damit die ökonomischen Grundlagen der europäischen Volkswirtschaft mit nachhaltigen sozialen Folgen: Die Kaufkraft der Beschäftigten und Bezieher:innen sozialer Leistungen schwand, weil steigende Preise Löhne, Renten und andere soziale Ausgleichszahlungen entwerteten. Im Vergleich zu den Zeiten vor der Krise hohe Leitzinsen verteuerten die Kreditaufnahme, was private wie öffentliche Investitionen erschwerte. Die Krise der Infrastruktur wurde vielerorts sichtbar. Sie zu überwinden wird aber unter dem Druck knappen und teuren Geldes immer schwerer, denn es heißt, ihr erfolgreich durch Investitionen Privater oder öffentlicher Stellen zu begegnen. Die jüngst beschlossenen Neuregelungen zum Haushaltsrecht der EU lockern die sich heute als zu rigoros erweisenden Konsolidierungsbemühungen für öffentliche Haushalte. Sie schaffen den Staaten der Währungsunion die Möglichkeit zur Kreditfinanzierung ökologischer, sozialer und Infrastruktur-Investitionen. Ein Lichtblick!
Die ökologische Transformation offenbarte neue soziale Fragen. Soll sie über marktwirtschaftliche Anreize – namentlich die CO2-Bepreisung – gesteuert werden, müssen hinlängliche Ausgleichszahlungen vorgesehen werden, die namentlich den von den Steigerungen besonders betroffenen gering verdienenden Bevölkerungsschichten zukommen. Erfolgreiche Klimapolitik muss deshalb umfassend sozial- wie verteilungspolitisch flankiert werden.
Durch die Europäische Arbeitsbehörde (ELA) wurde der Schutz der Wanderarbeitnehmer:innen durch Unterrichtung und Hilfe bei der Rechtsdurchsetzung deutlich verbessert. Die ELA wird daher die Beachtung und Durchsetzung der europäischen Regeln zum Schutz der Wanderarbeit verbessern helfen – namentlich die europäisch gewünschte Mobilität fairer gestalten.
Die Fortentwicklung des Europäischen Sozialfonds wie die zum Abschluss gelangten Bemühungen zur europaweiten Anerkennung von Behinderung sind weitere Fortschritte. Der Europäische Ausweis über Behinderungen als Grundlage der europaweiten Anerkennung des Schutzes von Menschen mit Behinderung und ihrer damit verbundenen sozialen Rechte ist eine große Errungenschaft – ähnlich wie der europäische Führerschein vor Jahrzehnten. Er ist aber andererseits eine bare Selbstverständlichkeit in einer Union von Staaten, die sich dem Schutz vor sozialer Ausgrenzung und der Überwindung aller Benachteiligungen wegen einer Behinderung verpflichtet weiß.
3. Europa hat die Wahl
In den nächsten Monaten werden in Brüssel und Straßburg die politischen Verhältnisse neu sortiert werden. Die Abstimmungsberechtigten haben mit ihrer Stimme darüber zu entscheiden, wie sich die EU weiterentwickeln wird. In ihren Händen liegt, was aus der EU in den nächsten fünf Jahren werden wird; es ist aber in den Wochen vor der Wahl schwer vorherzusehen, was am Ende der Wahlen stehen wird! Aus der Perspektive der Sozialpolitik wäre zu wünschen, dass sie in die Zukunft den Schwung aus der Vergangenheit mitnimmt und längst überfällige Lösungen für drängende und ungelöste Fragen anstrebt. Es gibt nämlich viel zu tun, weil vieles liegen geblieben ist!
Das inzwischen seit einem Jahrzehnt beratene Vorhaben einer Neugestaltung der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit [VO (EG) Nr. 883/2004] konnte nicht vorangebracht werden. Unvereinbare Positionen zwischen den Mitgliedstaaten – namentlich für die Neugestaltung der grenzüberschreitenden Rechte in der Arbeitslosenversicherung – konnten nicht überwunden werden. Darin liegt mehr als ein Ärgernis. Denn Koordinierungsrecht misslingt, wenn statt europäischer Prinzipien vermeintlich ökonomische Interessen einzelner Staaten den Diskurs bestimmen. Die Plattformarbeit und deren Einfügung in das Europäische Recht wurde zwar in Angriff genommen. Es fehlt in der Debatte aber weithin die kollisionsrechtliche Dimension der Fragestellung, welche freilich die eigentlich entscheidende ist.
Auch ein zentrales Anliegen der Europäischen Sozialpolitik des vergangenen Jahrzehnts – der Ausschluss von nichterwerbstätigen EU-Bürgern aus den Leistungen der Sozialhilfe – offenbarte Kehrseiten. Trotz dieser Leistungsausschlüsse ist die „Armutswanderung“ von Nichterwerbsfähigen nicht verschwunden. Die Zugewanderten wurden darüber allerdings ärmer als zuvor und die Aufnahmegesellschaften wurden durch deren Ausschluss aus der Sozialhilfe die Leidtragenden, weil sie vor neue Integrationsaufgaben für Obdachlose und bei der medizinischen Versorgung Nicht-Versicherter gestellt sind. Dadurch haben sich nicht nur die Lebensbedingungen der von Sozialhilfe ausgeschlossenen Menschen massiv verschlechtert, sondern auch die Aufnahmegesellschaften wurden mit neuen sozialpolitischen Lasten beschwert. Das schreiende Elend ist in die Wohlstandsgesellschaften massenhaft eingezogen; es wird in den Ballungszentren Europas allerorten und tagtäglich sichtbar. Wenn die Zahl Obdachloser steigt und für Ihre gesundheitliche und existentielle Betreuung immer mehr Mittel nötig werden, muss Europa daraus die richtigen Konsequenzen ziehen, d. h. den eingeschlagenen Irrweg endgültig verlassen!
In der Europäischen Sozialpolitik wartete die „High-Level Group on the future of social protection and the welfare state in the EU“ im Februar 2023 in ihrem Report mit neuen Impulsen, Initiativen und zentralen Botschaften für die Sozialpolitik der nächsten Jahrzehnte auf. Die demografische Entwicklung der europäischen Gesellschaften führe zu mehr Langlebigkeit und sinkenden Geburtenraten, heißt es in ihrem Bericht. Dies würde die europäischen Gesellschaften von Grund auf verändern. Die in der Forschung inzwischen verankerte Lebensverlaufsperspektive enthüllt den Zusammenhang zwischen sozialem Investment und sozialer Prävention: Sozialpolitik wirkt am besten, wenn es den vorhersehbaren sozialen Notlagen vorausschauend entgegenwirkt. Daraus folgt die Notwendigkeit zu einer besseren Gestaltung der Übergänge von Ausbildung in Arbeit und Arbeit in Ruhestand. Der Bericht spricht ein schon in der Sozialpolitik der vergangenen Jahrzehnte zentrales Thema erneut an: Die Verlängerung der Lebenserwartung erschwert die Finanzierung der sozialen Sicherung und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit entlastet die Pensionsfinanzen. Veränderungen im Erwerbsverhalten Älterer sind seit Jahren zu beobachten. Der Trend zu einem steigenden effektiven Rentenalter wächst. Der Mangel an Fach- und Arbeitskräften eröffnet auch Älteren neue Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Die Ausweitung der Beschäftigung folgt dem EU-Green Deal, der seinen Akzent auf die Fairness gegenüber vulnerablen Gruppen legt. Generationenkooperation ist das Gebot der Stunde; sie erfasst alle Generationen und durchläuft den Lebensverlauf.
Der Bericht unterstreicht aber auch: Sozialinvestitionen sind keine ökonomische Belastung, weil sie Wirtschaftskraft und Beschäftigung steigern und damit zugleich soziale Risiken vermindern. Der europäische Arbeitsmarkt schließt nach wie vor noch zu viele junge, weibliche, behinderte, ältere und migrantische Arbeitskräfte aus. Aktive Arbeitsmarktpolitik führt Menschen aus gefährdeten oder fehlenden in sichere Jobs. Pflege wird eine neue Aufgabe für das Arbeitsrecht und die Sozialpolitik in der EU. Eine ansteigende Beschäftigung erweitert die Basis für Beitragsfinanzierung der sozialen Sicherheit. Diese kann und sollte durch Steuern ergänzt und mehr durch eine Reichensteuer und Erhöhung der Unternehmensbesteuerung angereichert werden. Klimawandel und die im Rahmen des Green Deal angestoßene grüne Transformation haben zahlreiche sozialpolitische Implikationen.
Die EU und die Mitgliedstaaten haben darauf bisher zu wenig Antworten gefunden. Die von Klimawandel und fairer Transformation am stärksten betroffenen Gruppen benötigen besondere Hilfe. Die Klimaschutzpolitik wird daher zur Steigerung ihrer „Akzeptanz“ von zahlreichen sozialen Förderprogrammen begleitet werden müssen. Der „Green Deal“ wird daher nicht nur die EU und das dort sich entwickelnde Wirtschaften verändern, sondern auch weitreichende und bislang noch nicht völlig absehbare Folgen für das Arbeits- und Sozialrecht auslösen.
4. Fazit
Die EU steht in diesen Tagen an einem Scheideweg. Viele neue Aufgaben in der Sozialpolitik sind von Mitgliedstaaten und EU zu lösen – am besten im Einvernehmen. Die Wählerinnen und Wähler zum EU-Parlament stehen daher vor einer Wahl zwischen einem Europa, das sich den ökologischen und sozialen Fragen stellt und dafür den ökologischen und sozialen Fortschritt anstrebt, oder sich von diesen harten Herausforderungen abwendet, sich der verstörenden Gegenwart entzieht und stattdessen in Ressentiments, eine verklärte Vergangenheit, die Suche nach pointenreichen Slogans oder die Kritik an Vordergründigem flüchtet und darüber schließlich in Ratlosigkeit endet. Es geht bei den bevorstehenden Europawahlen also um die Wahl zwischen der sozial-ökologischen Utopie oder der Dystopie: es steht deshalb in Europa viel auf dem Spiel!