„Es ist mein Traumberuf“

Vasco Knickrehm über seinen Beruf als Sozialrichter

November 2021

Vasco Knickrehm

Vasco Knickrehm ist Direktor des Sozialgerichts in Kassel

Vasco Knickrehm stieß während seines Studiums der Rechtswissenschaften auf einen Professor, der ihn sehr beeindruckt hat. Er weckte sein Interesse, sich dem Sozialrecht zu nähern, das eigentlich gar nicht von ihm favorisiert wurde. Heute ist Knickrehm Sozialrichter und Direktor des Sozialgerichts in Kassel. Er findet, dass seine damalige Entscheidung für das Sozialrecht auf jeden Fall die richtige war.

 

Netzwerk Sozialrecht: Was bedeutet die Direktorentätigkeit für Ihre berufliche und richterliche Tätigkeit?

Knickrehm: Ich habe ein Verwaltungsdeputat von 50 Prozent und bin in diesem Rahmen für die Organisation und Verwaltung des Gerichtes zuständig. Ich bereite also etwa die Sitzungen des Präsidiums – also des Gremiums, in dem Richter*innen über ihre Belange wie die Geschäftsverteilung und Ähnliches beraten und selbst entscheiden – vor und leite als Vorsitzender diese Sitzungen. Das ist ein wichtiger Teil der Selbstverwaltung des Gerichtes. Darin zeigt sich übrigens auch die Unabhängigkeit der Richterschaft. Ich habe als Direktor zwar keine Dienstaufsicht über die einzelnen Richter*innen des Gerichtes, bin aber für deren sonstigen Belange, wie auch die Belange des nichtrichterlichen Personals zuständig, also etwa die Belange der Beschäftigten und Bediensteten in den Serviceeinheiten, der Rechtsantragsstelle, dem Archiv, der Aktenverwaltung oder der Bibliothek. Insgesamt arbeiten am Sozialgericht in Kassel etwa 50 Personen. Es gibt als Beschäftigtenvertretungen einen Richterrat und einen örtlichen Personalrat, mit denen ich als Dienstherr zusammenarbeite.

Netzwerk Sozialrecht: Da sind Sie sicher gut beschäftigt…

Knickrehm: (lacht) Ja, das kann man sagen. Aber es macht auch Spaß und ich bin dankbar, dass ich die Chance hatte, in der Justiz in Hessen tätig zu sein.

Netzwerk Sozialrecht: Und zur anderen Hälfte sind Sie dann als Richter tätig?

Knickrehm: Ja, und ich bin auch sehr froh und glücklich Richter in der ersten Instanz sein zu können. Denn: Ich habe so unmittelbaren Kontakt zu den Kläger*innen. Meine Kammer ist mit zuständig für Streitsachen aus dem SGB II, dem SGB III und der gesetzlichen Pflegeversicherung (SGB XI). In Streitigkeiten aus dem SGB II und dem SGB III gelingt mir der Einstieg in das Verfahren im Regelfall über einen frühen Erörterungstermin. Das hilft Kläger*innen, die gegebenenfalls schriftlich nicht so gewandt sind. Darüber hinaus stellt dieser Termin – insbesondere in der Pandemie – oftmals den allerersten persönlichen Kontakt zwischen der Behörde und dem oder der Betroffenen dar. Das finde ich sehr wichtig und ausgesprochen hilfreich. Durch das Amtsermittlungsprinzip können nämlich auch Problemursachen aufgefunden werden, an die vorher keine*r dachte und somit neue Wege gegangen und Argumente gefunden werden, um Kläger*innen zu ihrem Recht zu verhelfen.

Netzwerk Sozialrecht: Wie sehen denn Ihre Gestaltungsmöglichkeiten durch das Amtsermittlungsprinzip konkret aus?

Knickrehm: Anders als im Zivilrecht bin ich in der Sozialgerichtsbarkeit nicht an das Parteivorbringen gebunden, sondern bin von Rechts wegen verpflichtet, selbst Ermittlungen in der Sache anzustellen. Dabei geht es in erster Linie um Gutachtenaufträge. Diese können Behörden auch zeigen, was sie hätten ermitteln müssen. Aber es kann natürlich auch andere Fragen betreffen. So hatte eine Klägerin, die wohl am Rande einer Bulimie lebt, fünf Jahre lang hochdosierte Nahrungsergänzungsmittel vom Jobcenter im Rahmen ihrer SGB-II-Leistungen erstattet bekommen. Jetzt wurden sie einfach gestrichen. Hier zeigt natürlich die Anordnung einer Begutachtung von Amts wegen, welche Ermittlungen das Jobcenter schon im Verwaltungsverfahren hätte anstellen müssen. Der oder die Richter*in ist also nicht nur Beobachter*in, sondern auch handelnde Person in den anhängigen Streitverfahren.

Netzwerk Sozialrecht: Wie kommen Sie mit den vielen Gesetzesänderungen im Sozialrecht klar?

Knickrehm: Für mich persönlich ist es besonders wichtig, die Entwicklung des Sozialrechts aufgrund von politischen Änderungen hin zu den Auswirkungen in der Praxis zu beobachten, zu reflektieren und gegebenenfalls auch kritisch zu begleiten. Hierzu gehört es natürlich auch, die Auswirkungen dieser Änderungen auf die Praxis namhaft zu machen.

 

„Unsere Aufgabe: Einstieg in die Auslegung der neuen Rechtsnormen“

Netzwerk Sozialrecht: An welche Beispiele denken Sie hier?

Knickrehm: Mit dem SGB II und dem SGB XII ist damals den Sozialgerichten ja ein völlig neuer Rechtskreis zugewiesen worden: Das hat Auswirkungen nicht nur durch vollkommen neue rechtliche Regelungen mit sich gebracht, sondern durchaus auch eine andere Kläger*innenstruktur. Zum anderen bedeuteten die neuen Regelungen des SGB II und SGB XII auch ein Ausloten und Auslegen von Inhalt und Grenzen durch die Rechtsprechung. Es gab schließlich noch keine höchstrichterliche und obergerichtliche Rechtsprechung dazu. Also war es zunächst unsere Aufgabe in der ersten Instanz, diesen Einstieg in die Auslegung der neuen Rechtsnormen vorzunehmen. Wir waren als erste Instanz ja zeitlich ganz nah dran an diesem Prozess und als erste in der Rechtsprechung gefordert.

Netzwerk Sozialrecht: Und was war noch neu in diesem Zusammenhang?

Knickrehm: Zeitlich kurz vorhergehend vor diesen Neuregelungen kodifizierte der Gesetzgeber den Eilrechtsschutz im Sozialgerichtsgesetz. Vorhergehend wandten wir in der Rechtsprechung Regelungen der Verwaltungsgerichtsordnung entsprechend an und das durchaus mit einer sehr unterschiedlichen Prüfungsintensität und -dichte. Die Neuregelungen im Bereich des SGB II und SGB XII führten dann geradezu zu einer Explosion des einstweiligen Rechtschutzes zu den Sozialgerichten mit einem Anteil von zehn Prozent der Verfahren insgesamt. Das war schon eine außerordentliche Herausforderung.

Netzwerk Sozialrecht: Hat sich das bis heute gehalten?

Knickrehm: Nein, der Eilrechtsschutz ist gerichtsbezogen etwas zurückgegangen. Aber bei mir im Dezernat mit etwa 150–180 Verfahren im Zugang sind das im Jahr immer noch circa 20 Verfahren im Jahr. Diese Anträge erledigen wir hier in Kassel am Sozialgericht übrigens durchschnittlich innerhalb von bis zu 14 Tagen. Auf diese kurze Frist bin ich sehr stolz, zeigt sie doch, dass wir es mit dem Justizgewährleistungsanspruch sehr ernst nehmen.

Netzwerk Sozialrecht: Was gibt es noch für Beispiele für politische Änderungen, die den Gerichtsalltag erreichten und umkrempelten?

Knickrehm: Da wären etwa die Verschärfungen bei den Zugangsvoraussetzungen zu den Berufsunfähigkeits- und Erwerbsminderungsrenten nach altem Recht zu nennen, die Änderung der so genannten 3/5 Belegung. Diese Rechtsänderung liegt zwar schon etwas zurück. Sie hat seinerzeit aber eine große Anzahl von Rechtsstreiten hervorgerufen.

Netzwerk Sozialrecht: Haben Sie Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Tätigkeiten im Sozialrecht?

Knickrehm: Nach dem spannenden Studium der Rechtswissenschaft in Hamburg, in dem ich zunächst vor allem das Arbeitsrecht favorisierte und dann durch einen beeindruckenden Professor mich dem Sozialrecht näherte, war ich mehrere Jahre Referent des damaligen Spitzenverbandes der Rentenversicherungsträger (VDR). Ich war mit sozialpolitischen und verfassungsrechtlichen Fragen und der Umsetzung von neuen Gesetzen im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung befasst. Vor der Umsetzung ging es aber auch um die gemeinsame Positionierung der Rentenversicherungsträger untereinander zu (sozial-)politischen Vorhaben. Hier waren häufig Kompromisse zu suchen, damit gegenüber der Politik mit einer Stimme gesprochen wird. Das war damals für mich als junger Mensch mit meinen sozialpolitischen Vorstellungen teilweise schwer zu akzeptieren und manchmal auch nicht nachzuvollziehen. Aber es gab eindrückliche Einblicke, wie Sozialrecht „gemacht wird“. Und das finde ich nach wie vor das Spannende am Sozialrecht: das Hin- und Herpendeln zwischen Politik und der Auslegung der dann umgesetzten Norm in der sozialrechtlichen und sozialgerichtlichen Praxis. Das weckte dann übrigens auch den Wunsch in mir, doch in der juristischen Anwendung und hier als Richter zu arbeiten.

Netzwerk Sozialrecht: Haben Sie schon viele Rechtsgebiete im Sozialrecht bearbeitet?

Knickrehm: Ja, bis auf das Kassenarztrecht und die Unfallversicherung alles. Meine Lieblingsgebiete sind aber zum einen das SGB III mit seiner Nähe zum Arbeitsrecht, was etwa die Frage der Berücksichtigung von Abfindungen oder das Vorliegen eines wichtigen Grundes bei Sperrzeit trotz eines geschlossenen Vergleiches vor dem Arbeitsgericht angeht. Zum anderen das SGB II.

 

„Die berufliche Perspektive für Berufseinsteiger*innen ist günstig“

Netzwerk Sozialrecht: Wie finden Sie Ihren Beruf?

Knickrehm: Ich finde, es ist ein toller Beruf. Ich würde sogar sagen, es ist mein Traumberuf. Er ermöglicht es in positivem Sinne unabhängig zu sein. Wie eben jemand, der gerne unabhängig von äußerem Einfluss, nur seinem Gewissen verpflichtet, entscheidet.

Netzwerk Sozialrecht: Sie entscheiden ja zusammen mit den ehrenamtlichen Richter*innen…

Knickrehm: Ja, damit komme ich sehr gut zurecht. Der Austausch ist eine vielfältige Bereicherung in dieser unabhängigen Entscheidungsfindung.

Netzwerk Sozialrecht: Und was gefällt Ihnen nicht so?

Knickrehm: Das ist der ewige Streit um die Personalressourcen. Es ist wichtig, da dran zu bleiben, aber es ist echt nervig.

Netzwerk Sozialrecht: Sie sind auch Mitglied des Richterwahlausschusses im Land Hessen. Worum geht es da?

Knickrehm: Ja, ich vertrete dort die Sozialgerichtsbarkeit. Dafür wurde ich in den Gremienwahlen von den Sozialrichter*innen des Landes Hessen gewählt. Der Richterwahlausschuss in Hessen stimmt, auf Vorschlag der Ministerin für Justiz, der Berufung in das Richterverhältnis auf Probe oder auf Lebenszeit zu. Da haben wir derzeit viel zu tun, weil in den nächsten Jahren bedeutende Teile der Richterschaft in Hessen altersbedingt ausscheiden werden. Das ist übriges in allen Bundesländern so. Insofern stellt sich die berufliche Perspektive für Berufseinsteiger*innen in den nächsten Jahren sicher recht günstig dar.

Netzwerk Sozialrecht: Was raten Sie Studierenden, Referendar*innen oder Promovend*innen?

Knickrehm: Neugierig zu sein ist sicher hilfreich, nein eigentlich unabdingbar. Denn das Sozialrecht will gefunden werden! Eine Wahlstation am Sozialgericht kann helfen, Neues zu entdecken. Mut und Neugier braucht man. Denn das Sozialrecht lebt vom ständigen Wechsel. Deshalb bleibt es spannend, ein ganzes Arbeitsleben lang!

Das Interview führte Helga Nielebock.
Sie ist ehemalige Leiterin der Abteilung Recht beim DGB-Bundesvorstand und ehrenamtliche Richterin am Bundesarbeitsgericht.