Digital-Health-Entwicklung in Deutschland, Österreich und Estland

Studie der Bertelsmann Stiftung

Zusammengestellt von Bertold Brücher | April 2022

Um herauszufinden, warum Deutschland bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen gegenüber anderen Ländern hinterherhinkt, hatte die Bertelsmann Stiftung die Studie #SmartHealthSystems in Auftrag gegeben. In der im November 2018 erschienenen Studie analysierte die empirica Gesellschaft für Kommunikations- und Technologieforschung den Stand der Digitalisierung in 17 Ländern. Dafür wurde eigens ein Digital-Health-Index mit 34 Indikatoren zu Strategie, technischem oder digitalem Reifegrad und tatsächlichem vernetzten Gesundheitsdatenaustausch entwickelt. Die festgestellten Ergebnisse können und sollen in ihrer Überleitung zu Handlungsempfehlungen Impulse geben, wie die Digitalisierung des Gesundheitswesens auch hierzulande vorangetrieben werden kann. Beispielhaft werden im Folgenden drei Staaten gegenübergestellt: Deutschland, weil der Fokus auf der Entwicklung „bei uns“ liegen soll, Österreich, weil es von den Normen und Gewohnheiten her Deutschland am ehesten vergleichbar ist und Estland, weil es in Digitalisierungsangelegenheiten stets TOP-Positionen einnimmt.

Zu berücksichtigen ist, dass hier alleine der Digitalisierungsgrad „gerankt“ wurde; andere Aspekte (insbesondere Anschauungen zur Datensichersicherheit und – ggf. darauf aufbauend – Datenschutz) wurden nicht berücksichtigt.

Ranking – Digital-Health-Index auf einen Blick (pdf-Datei)

 

Deutschland

Die Gestaltung des digitalen Wandels in der Gesundheit kommt in Deutschland nur schleppend voran. Im internationalen Vergleich mit 16 anderen Nationen belegte Deutschland im November 2018 nur den vorletzten Platz. Digitale Health-Anwendungen waren bis dahin kaum in der Regelversorgung angekommen. Immerhin: Der zeitliche Rahmen für die landesweite Einführung der elektronischen Patientenakte ist gesetzlich festgelegt.
Weiterlesen: Deutschland: Deutschland hinkt hinterher

Österreich

Österreich liegt mit Platz 10 im Mittelfeld: Zwar ist eine elektronische Patientenakte vorhanden. Diese war jedoch 2018 nur in Krankenhäusern verfügbar. Eine zentrales Koordinationsorgan und gesetzlich festgelegte Zeitpläne für den sukzessiven Ausbau schaffen aber gute Voraussetzungen für den Digitalisierungsfortschritt.
Weiterlesen: Österreich: Schritt für Schritt

Estland

Estland führt den Digital-Health-Index mit deutlichem Abstand zu allen anderen Ländern. E-Rezept, elektronische Patientenakten und ein nationales Gesundheitsportal gehören längst zum Alltag der estnischen Bevölkerung. Möglich macht das eine nationale Infrastruktur. Sie integriert alle digitalen Gesundheitsdienste und bündelt den Zugang zu allen Patientendaten.
Weiterlesen: Estland: Spitzenreiter für Digital Health

 

Deutschland:
Deutschland hinkt hinterher

Platz 16 von 17: Das ist das Ergebnis der #SmartHealthSystems-Studie, die zeigt, dass Deutschland im Vergleich zu den anderen Ländern einen großen Rückstand hat. Ob elektronische Patientenakte, Patientenkurzakte mit einem Basisdatensatz für Notfälle, elektronische Medikationsliste, E-Rezept oder Gesundheitsinformationsportal: In Deutschland ist bisher keine dieser digitalen Anwendungen national umgesetzt.

Dabei mangelt es hierzulande nicht grundsätzlich an Innovationspotenzial: Viele Projekte wie etwa telemedizinische Schlaganfallversorgung im ländlichen Raum waren in den vergangenen Jahren von Erfolg gekrönt und werden als Angebot in der Gesundheitsversorgung genutzt. Doch meistens handelt es sich um regionale Angebote oder Dienste von einzelnen Versorgern. Derzeit entwickeln und testen beispielsweise mehrere Krankenversicherungen wie etwa die AOK und die Techniker Krankenkasse eigene Systeme für elektronische Gesundheitsakten. Allerdings ist noch offen, wie der Datenfluss von den Systemen der Krankenhäuser und Arztpraxen in die Gesundheitsakten geregelt sein wird.

Immerhin: Das seit 2016 geltende E-Health-Gesetz sieht vor, dass jeder Versicherte in Deutschland ab 2021 einen Anspruch auf eine elektronische Patientenakte (ePA) hat. Darin sollen wichtige Dokumente wie Arztbriefe, Medikationsplan, Datensatz für den Notfall oder Impfausweis gespeichert werden können.

Im Mai 2018 stimmte der Deutsche Ärztetag zudem einer Lockerung des Fernbehandlungsverbots zu. Seither ist eine telemedizinische Versorgung von Patienten grundsätzlich möglich. Allerdings können die einzelnen Landesärztekammern dieser Regelung widersprechen. Deshalb beschränkt sich auch das Angebot für Telemedizin bisher nur auf regionale oder lokale Versorger im Rahmen von Selektivverträgen.

Strategie

Erst seit Inkrafttreten des E-Health-Gesetzes 2016 existiert ein formaler Fahrplan für den Ausbau von Digital Health in Deutschland. Dieses hat den Fokus auf die Telematik-Infrastruktur als digitale Infrastruktur für das Gesundheitswesen gelegt. Eine nationale Digital-Health-Strategie mit verbindlichen Zielen und Richtlinien aber fehlt. Lediglich einzelne Anwendungen werden durch das E-Health-Gesetz geregelt. Einer der wichtigsten ist die elektronische Patientenakte: Versicherte sollen ab dem 1. Januar 2021 einen Anspruch darauf haben. Auch telemedizinische Dienste und die Einführung eines Medikationsplans werden im E-Health-Gesetz geregelt. Die Frist zur Einführung einer Videosprechstunde für Vertragsärzte war auf den 31.7.2017 gesetzt.

Rahmenbedingungen und regulatorische Faktoren

Kompetenzen und Entscheidungen werden auf Bundesebene an die Länder und die gemeinsame Selbstverwaltung delegiert. Eine Institution, die die Digitalisierung des Gesundheitswesens umfassend koordiniert, existiert jedoch nicht. Lediglich die gematik bildet eine Art institutionelle Verankerung für digitale Gesundheit. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) sowie der GKV Spitzenverband nehmen darin die Rolle der Gesellschafter ein. Halten diese bestimmte Fristen für die Einführung der neuen digitalen Anwendungen nicht ein, sieht das E-Health-Gesetz Sanktionen in Form von Haushaltskürzungen vor. Zudem soll die gematik beauftragt werden, die Voraussetzungen für die zusätzlichen technischen Anforderungen der neuen Zugriffs- und Authentifizierungsverfahren zu schaffen. Ein spezielles Budget für nationale Digital-Health-Projekte gibt es nicht, auf Länderebene sind begrenzte Geldmittel für E-Health-Initiativen verfügbar.

Erfolgsfaktoren

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat eine Abteilung für Digitalisierung gegründet. Deren Hauptaufgabe ist es, Schnittstellenprobleme zu beseitigen und die nötigen politischen Grundlagen zu erarbeiten, damit auch telemedizinische Leistungen insbesondere in ländlichen Regionen zum Einsatz kommen können Zudem bereitet das Bundesministerium für Gesundheit derzeit ein Gesetz für den flächendeckenden Einsatz von E-Rezepten vor, das spätestens 2020 in Kraft treten soll.

Digital-Health-Index und der Sub-Indizes Deutschland,
in Prozent der maximal zu erreichenden Punktzahl (pdf-Datei)

Quelle: #Smart Health Systems, Länderbericht Deutschland

 

Österreich:
Schritt für Schritt

Österreich ist bisher das einzige deutschsprachige Land, das über ein zentrales, öffentliches Gesundheitsinformationsportal verfügt: Über gesundheit.gv.at erhalten Patienten nicht nur qualitätsgesicherte, objektive und service-orientierte Informationen zu Krankheiten oder Therapien. Über das Portal können Patienten auch ihren E-Befund abrufen. Dieser enthält sowohl Entlassungsbriefe als auch Diagnosebefunde und kann für die ärztliche Einsicht gesperrt oder gelöscht werden.

Der E-Befund ist Teil von ELGA, das österreichische Äquivalent einer elektronischen Patientenakte. Die ELGA wird seit 2016 als Opt-out-System schrittweise eingeführt, wobei der E-Befund die erste Funktion ist, die landesweit zum Einsatz kommt. Weitere Kernanwendungen wie die E-Medikation, das E-Protokoll und der E-Impfpass stehen als nächstes auf der Implementierungsliste und werden sukzessive eingeführt.

Bisher sind in Österreich nur Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen mit der ELGA ausgestattet, sukzessive sollen Arztpraxen, Pflegeheime und Apotheken an die Infrastruktur angeschlossen werden. Da die ELGA als Opt-out-System angelegt ist, existieren zwar Akten für die gesamte Bevölkerung, was jedoch nicht heißt, dass jede Akte automatisch Informationen enthält: Berichte oder Befunde müssen vom Arzt in die ELGA abgelegt werden.

Strategie

Die Entwicklung der ELGA begann 2005 mit Einführung der elektronischen Krankenversicherungskarte und war von Beginn an eher von politischen Prozessen als von technischen Aspekten geprägt. Neben der ELGA-Initiative, die Pläne zur Implementierung eines E-Rezepts, zu mHealth, Telemedizin und zur Vernetzung der ELGA mit gesundheit.gov.at umfasst, existiert eine aktuelle Gesundheitssystemstrategie: die zehn Gesundheitsziele Österreichs. Eines davon hat das Thema „Digitale Gesundheit“ zum Fokus und sieht vor, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken.

Rahmenbedingungen und regulatorische Faktoren

2009 wurde ELGA GmbH gegründet. Gesellschafter sind Bund, Länder sowie Sozialversicherungen. Neben dem Ministerium für Gesundheit als jene Instanz, die E-Health-Gesetze vorbereitet, ist die ELGA GmbH die wichtigste Einrichtung im Bereich digitaler Gesundheit. Sie ist insbesondere für das Qualitäts- und Akzeptanzmanagement für die ELGA sowie für die Implementierung und Koordination der ELGA-Funktionen verantwortlich. Deren Einführungszeitpläne sind modular aufgebaut und gesetzlich festgelegt.

Erfolgsfaktoren

Auch wenn sich die elektronische Patientenakte ELGA sowie noch zahlreiche E-Health-Dienste noch im nationalen Rollout befinden bzw. noch nicht implementiert sind und erst der stationäre Sektor an das ELGA-System angeschlossen ist: Die Bildung eines Rechtsrahmens sowie die Gründung der ELGA GmbH als koordinierendes Organ haben in Österreich wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Digitalisierungsstrategie geschaffen.

Vergleich des Digital-Health-Index und der Sub-Indizes zwischen Deutschland und Österreich,
in Prozent der maximal zu erreichenden Punktzahl (pdf-Datei)

Quelle: #Smart Health Systems, Länderbericht Österreich

 

Estland:
Spitzenreiter für Digital Health

Seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991 hat Estland konsequent den Kurs auf Digitalisierung gesetzt. Öffentliche Verwaltung und Wahlen funktionieren papierlos und jeder Bürger verfügt über einen elektronischen Personalausweis. Auch in Sachen E-Health ist Estland Vorreiter: Seit gut zehn Jahren sind E-Rezept und elektronische Patientenakten gesetzlich verpflichtend. Videokonsultationen und Ferndiagnosen sind seit 2012 erlaubt und in die ambulante Versorgung integriert. Über das Gesundheitsinformationsportal digilugu.ee kann seit 2009 jeder Bürger seine persönlichen Gesundheitsdaten einsehen, sich über Krankheiten informieren, oder Termine bei niedergelassenen Ärzten online buchen.

Damit belegt Estland Platz 1 im Digital-Health-Index unserer Länderstudie. Zentrales Element für die Vorreiterrolle Estlands ist ENHIS. Das estnische Gesundheitsinformationsaustauschnetzwerk ist landesweit ausgebaut und registriert praktisch die gesamte Krankengeschichte der Bevölkerung von der Geburt bis zum Tod. 100 Prozent aller Ärzte, Fachärzte, Krankenhäuser und Apotheken sind an ENHIS angeschlossen.

Die Weitergabe von Patientendaten ist rechtlich über ein Opt-out geregelt: Zwar hat theoretisch jeder Arzt in Estland auf ENHIS-Daten für jeden Patienten zugreifen. Der Patient aber ist Eigentümer der Gesundheitsdaten und hat die volle Kontrolle darüber: Er kann alle oder einzelne elektronische Patientenakten in ENHIS unzugänglich machen und entscheidet, welcher Arzt sie einsehen darf und welcher nicht. Bemerkenswert ist außerdem: Auch die sekundäre Nutzung von Gesundheitsdaten für wissenschaftliche Untersuchungen oder Statistiken ist erlaubt.

Strategie

Das Konzept eines landesweiten integrierten und sicheren Austauschs von Gesundheitsinformationen für die gesamte Bevölkerung existiert seit 2005. Die aktuelle „Estonian eHealth Strategy 2020“ sowie die „Digital Agenda 2020 for Estonia“ haben zum Ziel, das gesamte Gesundheitssystem hin zu einer partizipativen, präventiven und persönlichen Versorgung zu reformieren. Dazu sollen unter anderem Big-Data-Analysen zur Verfügung stehen, um Therapien zu verkürzen, Diagnosen zu erleichtern und Qualitätskontrollen zu verbessern.

Rahmenbedingungen und regulatorische Faktoren

Digital-Health-Projekte werden seit 2004 vom Wirtschaftsministerium finanziert. 2005 wurde die Estonian eHealth Foundation gegründet und war seither für sämtliche Digital-Health-Angelegenheiten zuständig. 2017 fusionierte die eHealth Foundation mit dem E-Service-Referat des Ministeriums für Soziale Angelegenheit zum Zentrum für Gesundheits- und Sozialinformationssysteme TEHIK, das für die Entwicklung von Digital-Health-Diensten und die Bereitstellung von IKT-Diensten verantwortlich ist.

Erfolgsfaktoren

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion herrschte in Estland eine Art Stunde null und bot günstige Ausgangsbedingungen für die Digitalisierung des Gesundheitswesens: Seit den neunziger Jahren wird sie als politischer Prozess vorangetrieben – und zwar in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung. Dabei wurde auf eine öffentliche Debatte weitgehend verzichtet. Vielmehr wurden nötige Schritte von den Verantwortlichen identifiziert und strikt umgesetzt sowie früh ein rechtlicher Rahmen für Digital Health definiert.

Vergleich des Digital-Health-Index und der Sub-Indizes zwischen Deutschland und Estland,
in Prozent der maximal zu erreichenden Punktzahl (pdf-Datei)

Quelle: #Smart Health Systems, Länderbericht Estland

Bertold Brücher

Referatsleiter Sozialrecht beim DGB-Bundesvorstand