von Hans Nakielski | 11.10.2023
An der Rolle der Tafeln scheiden sich die sozialpolitischen Geister. Die einen sehen in den Tafeln sinnvolle und notwendige Institutionen zur Bekämpfung von Armut und Rettung von überschüssigen Lebensmitteln. Die anderen beurteilen die Tafeln als ein vormodernes Almosensystem, das für die Versäumnisse staatlicher Sozialpolitik einspringt. Was leisten die Tafeln, wie organisieren und finanzieren sie sich und welche Funktion erfüllen sie? Hier ein Überblick.
„Lebensmittel retten. Menschen helfen.“ So lautet das Motto der Tafeln. Die Idee der Tafeln stammt aus den USA, wo es eine lange Tradition von Charity gibt. Die erste Tafel in Deutschland wurde 1993 – also vor 30 Jahren – in Berlin gegründet. Seitdem hat sich die Tafel-Bewegung – vor allem nach der Einführung des Hartz-IV-Systems im Jahr 2005 – immer mehr verbreitet. Heute gibt es bundesweit 970 Tafeln mit über 2.000 Ausgabestellen.
Die Tafeln existieren nach Angaben ihres Dachverbandes aus zwei Gründen:
„1. Weil es bedürftige Menschen gibt, die die Hilfe bedürfen, und es andere Menschen gibt, die es als ihre Aufgabe ansehen, ihren Mitmenschen persönlich zu helfen.
2. Weil es bei den Herstellern und Händlern große Mengen überschüssiger, aber noch einwandfreier Lebensmittel gibt.“
Die zumeist ehrenamtlichen Helfer:innen der Tafeln, die zu einem erheblichen Teil selbst zu hilfebedürftigen Geringverdienenden gehören, sammeln diese überschüssigen Lebensmittel und verteilen sie an armutsbetroffene Menschen. Insgesamt unterstützen laut dem Dachverband Tafel Deutschland e. V. derzeit rund 60.000 Tafel-Aktive 1,6 bis 2 Millionen Menschen (siehe hier).
Genaue aktuelle Zahlen zu den Tafel-Nutzer:innen gibt es nicht. Sie sind wegen der Fluktuation der Besucher:innen auch schwer exakt zu ermitteln. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hatte erstmals für das erste Halbjahr 2020 eine wissenschaftliche Analyse zur Zahl und Zusammensetzung der Tafelbesucher:innen vorgenommen. Sie basierte auf einer neuen Frage im Sozio-oekonomischen Panel (einer großen jährlichen Haushaltsbefragung) danach, ob eine Person aus dem Haushalt in den letzten zwölf Monaten eine Tafel besucht hat, um dort Lebensmittel mitzunehmen.
Die wichtigsten Ergebnisse:
- Schon 2020 (also noch vor Beginn des Krieges in der Ukraine und der stark gestiegenen Inflation) nutzten 1,1 Millionen Menschen und damit 1,3 Prozent der Menschen in Privathaushalten die Tafeln.
- Drei Viertel von ihnen bezogen Grundsicherungsleistungen.
- Im Durchschnitt verfügten die Tafel-Nutzer:inen über ein bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen von rund 1.200 Euro pro Monat; es war nur halb so hoch wie das der Nicht-Tafelbesucher:innen.
- Ein Viertel der Menschen, die von den Tafeln profitierten, waren Kinder.
- Viele Tafelnutzer:innnen waren gesundheitlich beeinträchtigt, 32 Prozent erwerbsgemindert oder schwerbehindert.
- Die Ausgaben für Lebensmittel lagen bei den Tafel-Nutzer:innen mit einem Fünftel ihres Nettoeinkommens weit über dem Durchschnitt der restlichen Bevölkerung.
Ergänzende Hilfe
Die Tafeln bieten ergänzende Hilfen zur staatlichen Existenzsicherung. Sie können und wollen die sozialstaatliche Existenzsicherung nicht ersetzen und können auch niemand einen Anspruch auf (bestimmte) Lebensmittel garantieren. Denn sie können nur das weiterreichen, was sie selbst gespendet bekommen haben. Das sind vor allem Waren, die einen schnellen Durchlauf und ein kurzfristiges Verfallsdatum haben – wie etwa Obst, Gemüse, Brot- und Backwaren oder Milchprodukte. Länger haltbare Produkte (z. B. Marmelade, Nudeln, Reis etc.) werden wegen ihrer guten Lagerfähigkeit seltener gespendet.
Als Folge von Jobproblemen durch Corona, wegen des Ukraine-Krieges und der gestiegenen Flüchtlingszahlen sowie der hohen Inflationsraten ist die Zahl der Hilfesuchenden bei den Tafeln in letzter Zeit erheblich gestiegen. Gleichzeitig sank nach Angaben der Tafeln aber die Menge der gespendeten Lebensmittel. Denn die Lebensmittelhändler kalkulieren besser und verkaufen inzwischen über billige Aktionsangebote selbst noch viele Lebensmittel, deren Ablaufdatum kurz bevorsteht und die sonst an die Tafeln gegangen wären.
Etliche Tafeln reagierten darauf mit reduzierten Abgabemengen an die Besucher:innen. Fast ein Drittel der Tafeln verhängte nach einer Umfrage des Tafel-Dachverbandes aus dem letzten Jahr sogar einen Aufnahmestopp für Neukund:innen (siehe hier).
Organisation der Tafeln
Die Tafeln unterscheiden sich erheblich in ihrer Organisationsform sowie ihrem Angebot. Grundsätzlich gibt es
- Tafeln, die in Trägerschaft eines Wohlfahrtsverbandes (z. B. Diakonie, Caritas, AWO, DRK etc.) oder einer anderen gemeinnützigen Organisation arbeiten (dies betrifft etwa 60 Prozent aller Tafeln) und
- Tafeln, die als eigenständige eingetragene Vereine fungieren (etwa 40 Prozent).
Den lokalen Tafeln sind zwölf Landesverbände übergeordnet. An der Spitze fungiert der Dachverband Tafel Deutschland e. V., bei dessen Geschäftsstelle derzeit 44 hauptamtliche Mitarbeiter:innen (inklusive studentischer Hilfskräfte) arbeiten (siehe hier).
Seit 2015 gibt es auch eine Tafel-Akademie gGmbH, die den Dachverband bei der Umsetzung von Bildungs-, Projekt- und Forschungsvorhaben unterstützt.
Welche Angebote die Tafel machen kann, hängt von den örtlichen Gegebenheiten, Spender:innen und Sponsoren ab. Manche Tafeln können nur alle zwei Wochen eine Lebensmittelausgabe in einer nur zeitweise für sie nutzbaren Ausgabestelle ermöglichen. Andere verfügen über günstige Spenden und eigene Läden, die eine häufigere Abgabe erlauben.
Neben der Lebensmittelabgabe – meist gegen einen symbolischen Betrag – bieten etliche Tafeln noch zusätzliche Angebote an. Dazu gehören zum Beispiel Kochkurse oder – oft in Verbindung mit Wohlfahrtsverbänden – Sozialberatung, Kinderbetreuung, Hausaufgabenhilfe oder Kultur- und Freizeitangebote. „Tafeln haben sich in ihrem Sozialraum als Orte der Begegnung etabliert und übernehmen eine Begleitungs- und Lotsenfunktion für von Armut betroffene Menschen“, stellt dazu der Dachverband fest.
Finanzierung der Tafeln
„Die Tafel Deutschland und die Tafeln finanzieren sich fast ausschließlich über Spendengelder“, heißt es in einer aktuellen Hintergrundinformation des Tafel-Dachverbandes. Diese Information verschweigt aber, dass die Tafeln neben Spenden – darunter Großspenden der fünf Hauptsponsoren Metro, Lidl, Mercedes-Benz, REWE-Group und Deutsche Vermögensberatung (siehe hier) und in diesem Jahr eine Großspende von 30 Millionen Euro der Deutschen Fernsehlotterie (siehe hier) – mittlerweile längst auch Fördergelder von etlichen Bundesländern bekommen.
So zahlte etwa das Land Hessen im letzten Jahr 2,2 Millionen Euro Soforthilfe für die hessischen Tafeln. In diesem Jahr wurde der Betrag um eine Sonderförderung von 290.000 Euro aufgestockt. Schon 2020 hatte das Land rund 1,25 Millionen Euro Soforthilfe an die Tafeln gezahlt (siehe hier).
Baden-Württemberg unterstützt die 146 Tafeln im eigenen Bundesland in diesem Jahr mit 730.000 Euro (siehe hier).
Über dieses einmalige Förderprogramm für die Tafeln vor Ort hinaus zahlt das Land auch für die Geschäftsstelle des Landesverbandes „Tafel Baden-Württemberg e. V.“ im Rahmen einer jährlichen institutionellen Förderung. Im Jahr 2023 waren dies 275.000 Euro (siehe hier).
Bayern zahlt in diesem Jahr 1 Million Euro an die Tafeln, im letzten Jahr waren es 750.000 Euro (siehe hier).
Nordrhein-Westfalen hat die 173 Tafeln im Land in den letzten Wintermonaten Oktober 2022 bis Februar 2023 mit 1 Million Euro unterstützt. NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) möchte die Förderung nun verstetigen, „weil die Tafeln eine wichtige Unterstützung für viele Menschen sind“ (siehe hier).
Noch 2018 hatten Laumann und die NRW-Landesregierung eine direkte Förderung der Tafeln abgelehnt. Es gebe keinen Rechtsanspruch darauf, bei der Tafel etwas zu bekommen, hieß es. Denn bei der Tafel handle es sich nicht um eine staatliche Essensausgabe (siehe hier).
Auch die Brandenburger Landesregierung lehnte im Mai 2022 einen Antrag der oppositionellen Linken ab, die Tafeln mit einer Grundförderung zu unterstützen. Der Staat dürfe neben der Grundsicherung keine konkurrierenden Hilfesysteme aufbauen, hieß es als Begründung. „Der Sozialstaat zahlt Regelsätze – und gibt keine Almosen“, erklärte die Sozialministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) (siehe hier).
Eine Förderung aus Lottomitteln (2022: 120.000 Euro), etwa zur Beschaffung von Kühlfahrzeugen, konnten die Tafeln aber trotzdem schon länger in Brandenburg erhalten. Und im März dieses Jahres bewilligte das Land schließlich doch 500.000 Euro Soforthilfe an die 43 brandenburgischen Tafeln (siehe hier).
Die staatliche Förderung ist auch innerhalb der Tafeln nicht unumstritten. Der Dachverband der Tafeln fordert eine staatliche Grundfinanzierung der Tafel-Bewegung auf lokaler, Landes- und Bundesebene. Dagegen lehnt die Berliner Tafel e. V. eine staatliche Förderung ab. „Staatliche Gelder werden bewusst nicht in Anspruch genommen“, heißt es im Leitbild der Berliner Tafel.
„Ich bin grundsätzlich gegen eine staatliche Finanzierung“, erklärte die Vorstandsvorsitzende der Berliner Tafel Sabine Werth, die vor 30 Jahren die erste Tafel Deutschlands gegründet hatte, am 17. Februar 2023 in einem Interview mit dem Branchendienst epd sozial. „In dem Augenblick, wo wir staatliche Gelder bekommen, müssen wir leisten“, so Werth. „Und wenn wir nicht genügend Lebensmittel gespendet bekommen, müssten wir zusätzliche Lebensmittel kaufen. Unser Grundsatz lautet aber: Gespendete Lebensmittel. Wir müssten also unsere Grundsätze infrage stellen und könnten die Politik dann auch nicht mehr kritisieren. Die Hand, die mich füttert, beiße ich nicht.“
Außerdem möchte die Berliner Tafel laut ihrem Leitbild den Staat nicht aus der Pflicht entlassen, „die Grundversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten“.
Lob und Kritik
Die Tafeln haben sich laut der Selbstdarstellung ihres Dachverbandes „zur größten sozialen Bewegung der heutigen Zeit entwickelt, die Lebensmittel rettet und an sozial benachteiligte Menschen weitergibt“. Sie seien längst zu einer „gesellschaftlichen Größe“ geworden und eine „Schnittstelle zwischen sozialem und ökologischem Handeln“.
Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz, sieht in den Tafeln einen „fast flächendeckenden Teil der Infrastruktur des Überlebens in unserem Land, jedenfalls für einen Teil der Bedürftigen“ (siehe hier).
Auch in der Politik, die ja zunehmend die Tafel-Bewegung mit staatlichen Mitteln fördert, werden die Tafeln vielfach aufs Höchste gelobt. Stellvertretend für viele sei hier etwa Ute Leidig (Grüne), Staatssekretärin im Sozialministerium von Baden-Württemberg, zitiert: „Die Tafeln leisten einen Beitrag zur Linderung von Not und Armut. Sie stärken die Hilfe zur Selbsthilfe und das bürgerschaftliche Engagement von und für Menschen in Not“ (siehe hier).
Doch es gibt auch erhebliche Kritik an den Tafeln. Einer der größten Kritiker ist der Soziologe Prof. Stefan Selke, der sich bereits seit 2008 mit den Tafeln befasst. Für ihn sind sie „ein vormodernes Almosen- und Barmherzigkeitssystem“, wie er am 17. Februar 2023 in einem Interview mit dem Branchendienst epd sozial erklärte. In einem zivilisierten Land müsste man Menschen genug zu Leben geben, ohne dass sie bei der Sicherung ihrer Existenzgrundlage fremdbestimmt werden. In Almosensystemen seinen die Menschen aber immer fremdbestimmt. Selke meint: „Die eigentlichen Profiteure der Tafel sind die Unterstützer aus der Industrie. Die Unternehmen brauchen die Tafeln für ihr Reputationsmanagement. Die eigentliche Ware der Tafel ist das nachgefragte Gefühl, Gutes zu tun – Charity eben.“
Langfristig änderten die Tafeln nichts an den Ursachen der Armut mitten im Reichtum, so Selke in der Spreezeitung. Auch lasse sich Armut nicht ursächlich durch Lebensmittelspenden abschaffen. „Eine Reduzierung der Überflussmenge bei Lebensmitteln führt überhaupt nicht zu einer Senkung der Armutsquote.“
Die Sozialarbeiterin Svenja Fischbach, die 2014 ihre Masterthesis über die „Bedeutung von Lebensmittelausgabestellen für die Nutzenden“ geschrieben hat, kommt in der Internetzeitschrift „Evangelischen Aspekte, Heft 2/2019“ zu einer ähnlichen Bewertung: „Mit der steigenden Anzahl an Tafeln tritt anstelle von rechtlich gesicherten Ansprüchen im Sozialleistungssystem ein Almosensystem, welches immer professioneller wird und für die Versäumnisse der Sozialpolitik einspringt. Dieses System beruht auf privater Wohltätigkeit einzelner Menschen und ist damit immer von Willkür begleitet: Die betroffenen Menschen sind vom subjektiven Hilfewillen anderer Gesellschaftsmitglieder und von den Lebensmitteln, die die Gesellschaft nicht mehr haben will, abhängig. Zugespitzt: Ein solches Almosensystem untergräbt einen hart erkämpften Sozialstaat und katapultiert die moderne Gesellschaft zurück in die Zeit der Armenspeisungen des 19. Jahrhunderts.“
Fazit
Bei der zunehmenden sozialpolitischen Bedeutung und zunehmenden staatlichen Finanzierung der Tafeln muss sich die Politik entscheiden: Soll es weiterhin den örtlichen Gegebenheiten und dem Zufall überlassen bleiben, ob finanziell bedürftige Menschen neben den kaum ausreichenden staatlichen Existenzsicherungsleistungen ergänzende Hilfen der Tafeln bekommen können? Oder sollen die Tafeln als feste Bestandteile in das Existenzsicherungsrecht eingebunden werden (siehe dazu auch den Beitrag von Stephan Rixen in diesem Thema des Monats)?
Dann müssten die Leistungen der Tafeln allerdings auch mit rechtlichen Ansprüchen der Hilfebedürftigen verknüpft werden.