„Die Einarbeitung in einem sehr kollegialen Umfeld macht wirklich viel Spaß“

Dr. Vincent Klausmann über seine Erfahrungen als Jungrichter

November 2021

Portraitfoto Vincent Klausmann

Dr. Vincent Klausmann, Jungrichter, Sozialgericht Marburg

Vincent Klausmann (37) hat etwa zehn Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Marburg gearbeitet. Auf diesem Gebiet hat er auch promoviert: „Meinungsfreiheit und Rechtsextremismus – das antinationalsozialistische Grundprinzip des Grundgesetzes“ lautet das Thema seiner Dissertation. Inzwischen ist Klausmann (wieder) auf sozialrechtlichem Terrain unterwegs: als Jungrichter.

  

Netzwerk Sozialrecht: Was genau machen Sie heute und wie kamen Sie dorthin?

Klausmann: Ich bin seit 1 ½ Jahren Richter am Sozialgericht in Marburg und zuständig für eine Kammer im Arbeitsförderungsrecht (SGB III) und eine Kammer im Vertragsarztrecht. Ich habe an der Universität Marburg Jura und Politikwissenschaft studiert. Mein Wunscheinsatzgebiet war immer schon das Sozialrecht. Deshalb habe ich auch bereits im Studium einen entsprechenden Schwerpunktbereich absolviert. Das Berufsbild des Richters hat sich dann vor allem im Referendariat verfestigt. Meine Wahlstation habe ich zum Beispiel beim Sozialgericht absolviert.

Netzwerk Sozialrecht: Wie sind die Einarbeitungsbedingungen für junge Richter*innen?

Klausmann: Die Einarbeitung erfolgt grundsätzlich eigenständig mit vielfältigen Unterstützungsangeboten. In Hessen haben wir ein Mentoring-System, das heißt die jungen Proberichter:innen bekommen zwei erfahrenere Kolleg:innen als Mentor:innen zugeteilt, die dann für alltägliche Fragen zur Verfügung stehen. In meinem Fall kann ich sagen, dass sich das gesamte Kollegium und auch das Personal in den Serviceeinheiten jederzeit hilfsbereit gezeigt und mir die Einarbeitung dadurch enorm erleichtert hat.
Da der Richterberuf die Lösung konkreter rechtlicher Probleme am Einzelfall erfordert und während der juristischen Ausbildung leider das Sozialrecht immer noch ein Dasein am Rande fristet, lernt man in den ersten Monaten seine nun „eigenen“ Rechtsgebiete sehr detailliert kennen. Das ist natürlich sehr viel Arbeit, geht aber allen Anfänger:innen so – ob nun mit sozialrechtlichen Vorkenntnissen oder ohne. Davon sollte sich niemand abschrecken lassen. Die Einarbeitung in einem sehr kollegialen Umfeld macht wirklich viel Spaß.

Netzwerk Sozialrecht: Wie muss man sich Ihren Alltag vorstellen?

Klausmann: Ich bin noch Berufsanfänger. Bei einem Dezernat mit mehreren hundert Akten arbeitet man sich langsam vor: Man lernt zuallererst die Akten über die Posteingänge kennen. Mehr und mehr, Akte für Akte entsteht ein Überblick über das eigene Dezernat. Sinnvoll ist es dann, mit der Abarbeitung der älteren Verfahren zu beginnen und diese für die Entscheidung vorzubereiten. Dabei kann ein Erörterungstermin behilflich sein, teilweise sind auch Beweise zu erheben. Diese Vorbereitung der Entscheidung macht einen Großteil meines beruflichen Alltags aus. Häufig gehört auch dazu, herauszufinden, worum es den einzelnen Kläger:innen in dem konkreten Rechtsstreit überhaupt geht. In vielen Fällen gibt es bereits einen Bescheid, einen Widerspruch und einen Widerspruchsbescheid, Argumente sind also schon vorgetragen und eine erste rechtliche Einordnung durch die Behörde erfolgt. Diese gilt es dann im tatsächlichen und rechtlichen Sinne zu überprüfen. Welche Vorgehensweise dafür in welchem Fall die richtige ist, entscheidet man selbst. Hier können auch unterschiedliche Strategien ausprobiert werden, was sehr spannend ist.

Netzwerk Sozialrecht: Wie sieht es mit Fortbildungen und Qualifizierungsmöglichkeiten aus?

Klausmann: Es gibt in der Sozialgerichtsbarkeit in Hessen ein sehr vielfältiges Fortbildungsangebot. Dieses reicht von Veranstaltungen für die gesamte Gerichtsbarkeit, fachspezifischen Arbeitskreisen, Online-Veranstaltungen und kleinen selbstorganisierten Arbeitskreisen bis hin zu bundesweiten Fortbildungsangeboten verschiedener Anbieter:innen. Beim Fortbildungsangebot wird auf die Bedürfnisse von Berufseinsteiger:innen zum Beispiel hinsichtlich der Themenwahl besondere Rücksicht genommen. Ich habe den Eindruck, dass hier in der hessischen Sozialgerichtsbarkeit ein sehr großes Interesse besteht, uns Jungrichter:innen bestmöglich weiterzubilden.

 

„Jede Akte hat zu Beginn etwas von einem Rätsel“

Netzwerk Sozialrecht: Was begeistert oder schätzen Sie am Sozialrecht?

Klausmann: Diese Frage vollständig zu beantworten würde hier den Rahmen sprengen. Das Sozialrecht ist aus diversen Gründen ein lohnendes Arbeitsfeld. Mich persönlich hat die Errungenschaft eines funktionierenden Sozialstaats und seine Bedeutung für die Menschen schon immer interessiert. Am Richterberuf besonders hervorzuheben ist die Möglichkeit, die Entscheidungen in konkreten Streitfällen letztendlich selbst treffen zu können. Für die Kläger:innen sind die Streitigkeiten häufig von großer Bedeutung. In diesen Fällen nach rechtskonformen Lösungen zu suchen, die im Idealfall beide Streitbeteiligte versöhnen, ist nicht nur eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, sondern auch äußerst erfüllend.
Und nicht zuletzt ist es auch eine große intellektuelle Herausforderung: Jede Akte hat zu Beginn etwas von einem Rätsel, das gelöst werden muss. Mit der Zeit füllen sich die Lücken und man entdeckt immer wieder auch neue Ansätze, wie die Beteiligten zueinander finden könnten.

Netzwerk Sozialrecht: Gibt es für Sie inhaltliche Präferenzen beim Sozialrecht?

Klausmann: Ich bin innerhalb des Sozialrechts grundsätzlich für alle Rechtsgebiete offen, habe aber großen Gefallen an meinen bisherigen Tätigkeitsschwerpunkten gefunden.

Netzwerk Sozialrecht: Was empfinden Sie als größte Herausforderungen im Sozialrecht?

Klausmann: Die größte Herausforderung ist sicherlich die große Diskrepanz zwischen dem geringen Stellenwert, den das Sozialrecht in der juristischen Ausbildung bis heute leider immer noch hat, und der Notwendigkeit, sich im Beruf dann in kürzester Zeit intensiv einzuarbeiten. Mit dieser Herausforderung ist man bei uns in der Sozialgerichtsbarkeit aber nicht allein. Viele von uns Jungrichter:innen haben vor der Tätigkeit in der Justiz keine oder nur wenige Berührungspunkte mit dem Sozialrecht gehabt. Es gibt daher viel kollegialen Austausch über diese Problematik. Die Herausforderung sollte also niemanden davon abhalten, den Weg ins Sozialrecht zu wagen.
Ich empfinde es neben der fachlichen Kompetenz als große Herausforderung, an der eigenen Verhandlungsführung zu arbeiten. Während des Referendariats und der bisherigen Tätigkeit in der Justiz ist mir die Bedeutung einer empathischen und geradlinigen Verhandlungsführung immer bewusster geworden. In vielen Fällen ist das Sozialgerichtsverfahren einer der wenigen Kontakte der Kläger:innen mit der Justiz. Es ist deshalb eine große Verantwortung, nicht einfach nur ein auswendig gelerntes Programm abzuspulen, sondern offen für den Vortrag der Beteiligten zu bleiben und rechtliches Gehör zu gewähren. Auch auf diesem Gebiet nicht stehen zu bleiben, sondern das eigene Auftreten weiterzuentwickeln, treibt mich an.

Netzwerk Sozialrecht: Können Sie ihre jetzige Tätigkeit im Sozialrecht mit Erfahrungen in anderen Rechtsgebieten vergleichen?

Klausmann: Ich habe circa zehn Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht gearbeitet und auch im Staatsrecht promoviert. Das ist aber etwas wirklich anderes als die richterliche Tätigkeit. Insbesondere in der Lehre betrachtet man ein Rechtsgebiet quasi von „oben“. Es geht darum, ein Gesamtverständnis zu vermitteln. Vielfach erfolgt eine Einarbeitung anhand von Lehrbüchern.
Bei der richterlichen Tätigkeit steht hingegen die Bearbeitung des konkreten Einzelfalles im Vordergrund. Ein Stück weit verlässt man also bei der Aktenbearbeitung die übergeordnete Perspektive, die in der rechtswissenschaftlichen Tätigkeit im Vordergrund steht. Pragmatismus ist hier viel wichtiger. Auch die zeitliche Perspektive der richterlichen Tätigkeit ist eine andere als die bei der wissenschaftlichen Tätigkeit. In der Wissenschaft verfolgt man meist auf mehrere Jahre angelegte Projekte, in denen man sich tiefgehend mit einer Fragestellung beschäftigt. Als Richter:in bearbeitet man hingegen dutzende Akten pro Monat und muss dabei verschiedene Fragestellungen parallel durchdenken. Darüber hinaus besteht oft eine gewisse Dringlichkeit, die Verfahren voranzutreiben.

Netzwerk Sozialrecht: Wie sind die Möglichkeiten für eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie/Freizeit?

Klausmann: Nach meinen bisherigen Erfahrungen und Berichten von Kolleg:innen bietet die Justiz ein sehr gutes Arbeitsumfeld, um Beruf mit Familie und Freizeit gut zu vereinbaren. Die freie Arbeitszeiteinteilung ist hier natürlich ein wesentlicher Baustein.

Das Interview führte Helga Nielebock.
Sie ist ehemalige Leiterin der Abteilung Recht beim DGB-Bundesvorstand und ehrenamtliche Richterin am Bundesarbeitsgericht.