„Das Menschliche und Persönliche geht bei einer Videogerichtsverhandlung unter“

Franz-Reinold Organista zu seiner Tätigkeit als ehrenamtlicher Richter – auch in der Pandemie

Franz-Reinold Organista im Interview | September 2021

Portraitfoto Franz-Reinold Organista

Franz-Reinold Organista

Franz-Reinold Organista (65) ist derzeit Vorsitzender des Gesamtpersonalrats bei der Kommunalverwaltung in Rendsburg (Schleswig-Holstein). Der Sozialarbeiter ist seit 2004 auch ehrenamtlicher Sozialrichter. Seit 2014 übt er diese Funktion am Landessozialgericht (LSG) Schleswig-Holstein in Schleswig aus. Dort machte er während der Corona-Pandemie auch Erfahrungen mit Online-Gerichtsverhandlungen.

 

Netzwerk Sozialrecht: Wie kommt es, dass Du ehrenamtlicher Richter am LSG Schleswig-Holstein geworden bist?

Organista: Ich bin Sozialarbeiter. Im Zuge eines so genannten wilden Streiks bin ich 1984 in die Gewerkschaft eingetreten  und wollte damit zukünftig die Unterstützung einer Organisation erhalten, aber auch meine Solidarität zeigen. Solidarität ist für mich wichtig. Ich selbst habe Unterstützung erfahren durch den gewerkschaftlichen Rechtsschutz: aus einer mehrfachen so genannten Kettenbefristung ist anderen und mir herausgeholfen und eine feste Beschäftigung verschafft worden. So habe ich auch selbst ganz praktische Erfahrungen mit „Recht haben und Recht bekommen“. Als Gewerkschafter habe ich mich engagiert, wurde mehrfach in den Personalrat und zu dessen Vorsitzenden gewählt in der Kommunalverwaltung Rendsburg in Schleswig-Holstein. Heute bin ich Vorsitzender des Gesamtpersonalrats. Ich bin also auch in meinem Alltag mit juristischen Fragen konfrontiert. Von meiner Gewerkschaft wurde ich unterstützt mit Informationen und Fortbildung. Sie hat mich bereits 2003 als ehrenamtlichen Richter für die Sozialgerichtsbarkeit vorgeschlagen und 2004 wurde ich an das Sozialgericht berufen. Seit 2014 bin ich am Landessozialgericht tätig.

Netzwerk Sozialrecht: Bist Du in einem Senat mit klareren Sachthemen oder wechselst Du jedes Mal den Senat?

Organista: Am LSG bin ich ständiges Mitglied in einem Senat, der sich mit Rentenfragen und Hartz-IV-Fragen befasst. In der ersten Instanz – also am Sozialgericht – war ich in der so genannten Hartz-IV-Kammer. Das passte bei mir sehr gut. Denn ich habe mich über zehn Jahre lang in der Beratung und Hilfe für Arbeitslose engagiert und kannte mich deshalb in diesem Bereich sehr gut aus – auch im Umgang mit Ämtern und deren Praktiken. Die Errichtung von Jobcentern und deren Arbeitsorganisation habe ich als Personalrat begleitet. Leider hatte ich bei meiner gerichtlichen Tätigkeit anfangs das „unheimliche Gefühl“, dass ich – obwohl etwa zwei Drittel der Fälle gegen die Bundesagentur für Arbeit bzw. die Jobcenter von den Kläger*innen gewonnen wurden – zusammen mit dem Gericht „der Obrigkeit“ helfen sollte, die Unterschicht „im Zaum“ zu halten. Zwischenzeitlich ist das zwar etwas besser geworden, aber am Anfang habe ich mich in der Hartz-IV-Kammer insofern deplatziert gefühlt. Vor allem auch deshalb, weil die Lage der Kläger*innen nicht in ihrem vollen Ausmaß – also auch in persönlicher und moralischer Hinsicht – erfasst wurde.

Netzwerk Sozialrecht: Was soll denn Deiner Meinung nach die Rechtsprechung als dritte Säule in der Gewaltenteilung leisten?

Organista: Die rechtsprechende Gewalt soll natürlich Respekt erfahren. Aber sie sollte nicht auf einem Sockel stehen, sondern auf Augenhöhe mit den Beteiligten sein. Ansonsten kann die rechtsprechende Gewalt nicht versöhnen. Das sollte sie aber.

Netzwerk Sozialrecht: Was siehst Du als Deine Aufgabe dabei an? Warum machst Du dieses Ehrenamt?

Organista: Als ehrenamtlicher Richter bringe ich mich mit meiner persönlichen Erfahrung und meinem Bauchgefühl aktiv ein. Man könnte auch sagen: mit des Volkes Stimme. Mir geht es bei dem Amt auch um aktive Solidarität. In der ersten Instanz der Sozialgerichtsbarkeit können die beiden ehrenamtlichen Richter*innen mehr mitreden. In der zweiten Instanz wirken aber drei Berufsrichter*innen und weiterhin nur zwei ehrenamtliche Richter*innen mit. Da haben die ehrenamtlichen Richter*innen nicht mehr die Mehrheit, ihr Einfluss ist geringer. Aus meiner Sicht ist die Rechtsprüfung hier abgehobener und juristischer in der Feinargumentation, was allerdings nicht unbedingt schlechte Ergebnisse für die Kläger*innen bedeutet, aber wesentlich emotionsloser  seitens der Berufsrichter ist. Jedenfalls entspricht das weniger meinem Verständnis von Rechtsprechung.

Ich will nicht verschweigen: Der Vorschlag für dieses Amt hat mir natürlich auch etwas geschmeichelt und es ist mir im wahrsten Sinne des Wortes eine Ehre, dieses Amt auszuführen bzw. auszufüllen. Warum ich das mache? Um es mit Mahatma Ghandis Lebensmotto zu sagen: „Ich tue das nicht für das indische Volk, sondern für mich, das ist wie Atem für mich“. Ich wünsche vielen anderen auch solche Möglichkeiten. Ich finde es deshalb auch gut, dass dieses Ehrenamt befristet ist. Dann können auch andere tätig werden und diese Erfahrungen machen.

Netzwerk Sozialrecht: Wie sieht es mit Informationen zu den Fällen aus? Und mit Fortbildungen?

Organista: Bezüglich der Informationen zu den Fällen fühle ich mich gut unterrichtet. Dafür könnte aber die gewerkschaftliche Fortbildung der ehrenamtlichen Richter*innen von Seiten der Gewerkschaft in Schleswig-Holstein verbessert werden.

Hohe Konzentration bei Online-Sitzungen erforderlich

Netzwerk Sozialrecht: Was sind Deine Erfahrungen als ehrenamtlicher Richter in der Pandemie?

Organista: Ich hatte – auch aus privaten Gründen – deutlich weniger Sitzungstermine. Und ich habe an einer Online-Sitzung, also einer Gerichtsverhandlung und -beratung mittels Videokonferenz, teilgenommen.

Netzwerk Sozialrecht: Was war anders als bei einer Präsenzsitzung und -beratung des Senats?

Organista: Anders als bei einer mündlichen Verhandlung in Präsenz gab es eine eher gleichberechtigte Teilnahme aller Beteiligten und kein Gefälle zwischen der Richterbank und den anderen Teilnehmenden. Das fand ich gut. Noch waren alle unerfahren mit der Technik und deren Umgang, aber darüber wurde offen gesprochen. Alle hatten Hilfe von Dritten benötigt. Es war eine gute Atmosphäre entstanden, die auch während des Sitzungstages anhielt. Der Sitzungstag dauerte drei Stunden mit nur einer kurzen Kaffeepause während einer Beratung. Die Beratung mit den anderen Richter*innen hatte keine mindere Qualität als bei einer Präsenzsitzung. Gut ist generell bei Online-Sitzungen natürlich, dass die Fahrerei für alle Beteiligten entfällt.

Netzwerk Sozialrecht: Siehst Du auch Nachteile bei Online-Sitzungen?

Nachteilig ist aber die hohe Konzentration, die ich aufbringen muss, häufig über mehrere Stunden hinweg vor dem Bildschirm sitzend. Und besonders nachteilig sind die Defizite in der Kommunikation.  Ich hatte das Gefühl, dass wegen der fehlenden körperlichen Präsenz auch die emotionale Wahrnehmung der Akteure untereinander fehlte.

Netzwerk Sozialrecht: Wie machte sich das bemerkbar, diese fehlende Wahrnehmung?

Organista: Das Menschliche fehlt, das menschliche Gefühl. Es fehlt die körperliche Wahrnehmung der anderen Beteiligten, die Präsenz dieser Personen durch deren persönliche Ausstrahlung, Mimik und Gestik. Eine Person sendet neben einem Bild noch andere Signale aus und ermöglicht noch andere Wahrnehmungsebenen. Ich halte diese persönliche Wahrnehmbarkeit für wesentlich, um mit dem Gegenüber in eine wirkliche Kommunikation zu kommen. Das ist mir durch Videokonferenzen nicht möglich.

Netzwerk Sozialrecht: Sollte die Verhandlung mittels Videotechnik generell oder nur in Ausnahmefällen oder gar nicht genutzt werden?

Organista: Das menschliche Anliegen geht bei einer Videogerichtsverhandlung unter. Das ist aber für eine Entscheidung in der rechtsprechenden Gewalt von großer Bedeutung. Darauf kann nicht ausschließlich verzichtet werden.

Das Interview führte Helga Nielebock. Sie ist ehemalige Leiterin der Abteilung Recht beim DGB-Bundesvorstand und ehrenamtliche Richterin am Bundesarbeitsgericht.