Breites Meinungsspektrum zu Videogerichtsverhandlungen

von Bertold Brücher | 01.08.2023

Videoverhandlungen und Videobeweisaufnahmen sind nach Ansicht der Bundesregierung „in vielen Fällen zu einem unverzichtbaren Instrument für eine effiziente Verfahrensführung ge-worden“. So heißt es im Gesetzentwurf, mit dem die Bundesregierung den Einsatz der Videokonferenztechnik verstärkt fördern will. Doch es gibt bisher kaum empirische Erkenntnisse über die Sinnhaftigkeit, Nützlichkeit, Erforderlichkeit und Akzeptanz von Videogerichtsverhandlungen. So bleibt es dazu bei Einzelmeinungen. Im Folgenden werden einige aufgeführt.    

Die Zeit der Pandemie hat – wenn auch unfreiwillig – die gesamte Bundesrepublik und alle in ihr lebenden Menschen in eine Situation geführt, die wie ein sozialwissenschaftliches Experiment anmutete. Dennoch ist dieses Experiment von der Forschung und Wissenschaft nur rudimentär genutzt worden, um eben dazu sozialwissenschaftlichen Studien zu betreiben. Von daher gibt es auch nur wenige nach wissenschaftlichen Standards gewonnene Erkenntnisse.

Dies betrifft auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit, Nützlichkeit, Erforderlichkeit und letztlich der Akzeptanz von Videogerichtsverhandlungen und – um diese in einen gesetzlichen Rahmen zu stellen – der hier im Thema des Monats erläuterten Gesetzesinitiative.

Dass es die gesetzliche Möglichkeit von (teil-)digitalen Gerichtsverhandlungen, wenn auch wenig genutzt, schon seit zwei Jahrzehnten gibt und dieses Verhandlungsformat – durch die Corona-Gesetzgebung temporär ausgebaut – in der Pandemie teilweise gefördert wurde, ist das eine. Das andere wären empirische  Studien und deren wissenschaftliche Auswertungen gewesen, um signifikante Ergebnisse gewinnen zu können. Warum auch immer: Diese gibt es in Gänze nicht!

Eines der wenigen Forschungsprojekte im rechtlichen Bereich war das von  Armin Höland, Christina Maischak (Zentrum für Sozialforschung Halle)  und Felix Welti (Universität Kassel) mit dem Titel „Arbeits- und Sozialgerichte und Sozialverwaltung in der Pandemie“ (siehe hier).

Es erfasste aber ausschließlich das Pandemie-Jahr 2020 und  beschäftigte sich neben dem Einsatz der Videokonferenztechnik auch mit anderen Auswirkungen der Pandemie – etwa mit den Widerspruchsverfahren bei der Sozialversicherung und den Jobcentern. Die Ergebnisse zur Anwendung der Videokonferenztechnik zeigten dann, dass selbst in der Pandemiezeit deren Einsatz äußerst schwach war.  92 Prozent der Berufsrichter:innen der Sozialgerichtsbarkeit gaben an, dass sie davon von Ende Mai bis Ende Dezember 2020 nie Gebrauch gemacht hatten. Sieben Prozent hatten gelegentlich, 0,7 Prozent oft davon Gebrauch gemacht. Bei der Frage, ob und in welchem Umfang Videokonferenztechnik in sozialgerichtlichen Verfahren zum Einsatz kommen kann und sollte, gingen nach der Studie die Meinungen weit auseinander.

Einzelne Statements zu Videoverhandlungen

Mangels empirischer Forschung über die Annahme und Auswirkung solcher Verhandlungsmethodik  – auch in Nicht-Pandemie-Zeiten – können dazu nur Einzelmeinungen eingeholt werden, die oft auch interessegeleitet sind. Gleichwohl illustrieren diese Einzelbeobachtungen oder -meinungen aber den „Stand der (von der Ampelkoalition so gesehenen) Notwendigkeit“. Schauen wir näher hin.

Als Vorteil von Videoverhandlungen wird gesehen, dass

Im Ergebnis, so die These, beschleunigt all´ dies die Verfahren – und ist im Sinne aller Beteiligten. Der Düsseldorfer Fachanwalt für Arbeitsrecht Christoph Kaul plädiert deshalb für ein „Ja zu mehr Videoverhandlungen!

Anstelle selbst gesehener Nachteile – vielleicht gibt es diese für Kaul nicht – werden für die Ablehnung von Videoverhandlungen von einzelnen Gerichten formulierte Ablehnungsgründe wiedergegeben.

In einer Veröffentlichung mitten aus der Zeit der Pandemie (August 2021) der Berliner Rechtsanwaltskanzlei von Rueden mit dem Titel „Sind Videoverhandlungen die Zukunft?“ werden auch Nachteile von Videositzungen genannt:

In einem Beitrag der Rechtsanwaltskanzlei Bietmann vom April 2022  mit dem Titel „Verhandlung digital – Erfahrungen mit Gerichtsverhandlungen via Videokonferenz“ heißt es,  dass es ein anwaltlichen Grundstandart sei, einen Antrag auf Durchführung der Verhandlung durch eine Videokonferenz zu stellen. Den Mandanten erspare dies Kosten und es schone die Ressourcen sowie die Zeit aller Beteiligten. Von daher sei es wünschenswert, dass die Verfahren leitenden Richter:innen anregen, die Verhandlung als Videokonferenz durchzuführen – und entsprechende Anträge dann auch positiv bescheiden.

Eine differenzierte Einschätzung gibt der Rechtsanwalt Helmut A. Graf in seinem Beitrag  „Zusätzliche Gerichtsgebühren für Gerichtsverhandlungen per Video nach § 128a Abs. 1 ZPO“ aus dem Februar 2021, gewonnen aus den Erfahrungen mit dem Amtsgericht München I. Einerseits spare eine Videoverhandlung Zeit und schone mangels Reisetätigkeit die Umwelt, andererseits werden Probleme gesehen, wenn Videoverhandlungen nicht die Ausnahme sind, sondern zur Regel werden: So befürchtet Graf ein „Onlinewarten“, wenn nicht nur Gerichte und Anwälte, sondern auch die Parteien der Videoverhandlung zugeschaltet werden. Wolle die Justiz vereinbarte Termine auch pünktlich einhalten, dann müssten Gerichtsverhandlungen, deren Dauer nur schwer kalkulierbar ist, großzügig terminiert werden, um sicherzustellen, dass die vorausgehende Verhandlung auch beendet ist, bevor die nächste Verhandlung beginnt. Und – so schließt er seinen Gedanken ab: „Ob dies dann wiederum der Richterschaft gefällt, bleibt abzuwarten.“

Silke Clasvorbeck, Rechtsschutzsekretärin aus dem gewerkschaftlichen Rechtsschutz im Büro Bielefeld, schildert Einzelfälle aus ihren Erfahrungen mit Videoverhandlungen: Die Technik habe reibungslos funktioniert, sowohl im mobilen Arbeiten wie aus dem Büro. Das Einwählen habe sehr leicht über den vom Gericht zugesandten Link geklappt; auch eine Klägerin, versiert im Umgang mit Video-Technik, habe sich ohne Probleme zuschalten können.

Das zwischen Mandant:innen und ihrer Prozessvertretung in Präsenzverhandlungssituation übliche Vorgespräch auf dem Gerichtsflur sei durch ein zuvor geführtes Telefonat ersetzt worden. Vermisst hat die Rechtsschutzsekretärin aber die Möglichkeit, sich zwischenzeitlich direkt zu beraten.

Ihr Fazit ist, dass Videoverhandlungen zeiteffizient sind, da An- und Abfahrten eingespart werden. Eignen würde sich eine solche Verhandlungsführung aber eher, wenn die Parteien selbst nicht zugegen sind. Schließlich komme es auf die Sache selbst an. „Im Austausch mit dem Gericht und der Gegenseite geht schon etwas verloren, wenn man sich nicht gegenübersitzt, sondern nur über den PC sieht und hört. Ich glaube deshalb nicht, dass man zum Beispiel gemeinsam Lohnabrechnungen durchgehen oder Arbeitsunfähigkeitszeiten abgleichen kann, um einen Vergleich adäquat auszuhandeln“, so Clasvorbeck.

Ähnlich argumentiert auch Simon Heinzel, der als Kontaktanwalt für den Interessenverband Unterhalt und Familienrecht (ISUV e. V.) arbeitet, in einer Pressemitteilung des ISUV zum geplanten Gesetz zum Ausbau der Videoverhandlungen:  „Wenn es darum geht, in einer Verhandlung Lösungen zu finden, ist der persönliche Kontakt in einem Gerichtssaal, gerade der Beteiligten, nach meiner Erfahrung unverzichtbar.“ Andererseits zeige die Praxis aber auch, dass die Begegnungen von ehemaligen (Ehe-)Partner:innen in Gerichtsverfahren  Aggressionen und panische Reaktionen auslösen können. Videoverhandlungen könnten da eine „natürliche Distanz“ schaffen.

Auskünfte der Landesregierung Schleswig Holstein

Aus der Antwort der schleswig-holsteinischen Landesregierung vom 1. März 2021 auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Lars Harms ergeben sich zumindest Zahlen, die allerdings – soweit bekannt – im Nachgang nicht  ausgewertet worden sind. Demnach waren von Juni 2020 bis Februar 2021 in Schleswig-Holstein geschätzt deutlich mehr als 1000 Verhandlungen so geführt worden, dass Beteiligte per Video zugeschaltet waren. Davon gab es – tatsächlich erfasst – in der ordentlichen Gerichtsbarkeit (vier Landgerichte, zwei Amtsgerichte sowie das Oberlandesgericht) 866 Videoverhandlungen. Da nicht alle Gerichte Zahlen genannt hatten, wurde eben „von mehr als 1000 Videoverhandlungen“ ausgegangen.

Damit die Öffentlichkeit den Verhandlungen folgen konnte, standen in allen Gerichten große Monitore bzw. Freisprechmikrofone mit echo cancelling zur Verfügung. Die Teilnahme der Öffentlichkeit war (und ist) durch persönliche Anwesenheit im Verhandlungssaal möglich. Gestreamt wurden Gerichtsverhandlungen nicht, da dies grundsätzlich unzulässig ist (vgl. § 169 Gerichtsverfassungsgesetz).

Fazit

„Der Einsatz von Videokonferenztechnik ist Ausdruck einer modernen, digitalen und bürgernahen Justiz. Von den bereits seit längerem bestehenden rechtlichen und technischen Möglichkeiten, mündliche Verhandlungen, Güteverhandlungen und Erörterungstermine sowie die Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen und Parteien per Bild- und Tonübertragung durchzuführen, wurde erst infolge der Corona-Pandemie in größerem Umfang Gebrauch gemacht. Mittlerweile sind Videoverhandlungen und Videobeweisaufnahmen in vielen Fällen zu einem unverzichtbaren Instrument für eine effiziente Verfahrensführung geworden.“

So heißt es in der Begründung des Regierungs-Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten.

Es lässt sich im Ergebnis aber festhalten, dass es weder gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über eine allgemeine und bewährte Funktionsfähigkeit von Videoverhandlungen gibt noch gesicherte Studien über die Akzeptanz dieses Verhandlungsformats – und zwar unabhängig von der jeweiligen Gerichtsbarkeit

So muss es bei den Mainstream-Aussagen des Bundeskabinetts bleiben, die, orientieren wir uns am Prozessrecht, lediglich (unbewiesene) Behauptungen sind. Die nähere Zukunft wird zeigen, in welcher Form die gesetzgebenden Institutionen Bundestag und Bundesrat die gerichtliche Videoverhandlung beschließen, die fernere Zukunft, ob die Erwartungen des Gesetzentwurfs erfüllt werden.

Bertold Brücher

ist Referatsleiter Sozialrecht beim DGB-Bundesvorstand