Aus „alt“ mach‘ „neu“ – vom BVG zum SGB XIV

Von Sabine Knickrehm | 11. Januar 2024

Am 1. Januar 2024 ist ein neues Sozialgesetzbuch, das SGB XIVin Kraft getreten. Es regelt das Recht der Sozialen Entschädigung. Wieso war ein neues Sozialgesetzbuch notwendig? Und wie lief der Gesetzgebungsprozess?

Beim Recht der Sozialen Entschädigung handelt es sich um Ansprüche von Bürgerinnen und Bürgern gegen den Staat für den Fall, dass ihnen ein gesundheitlicher Schaden durch eines der nachfolgenden – gesetzlich definierten – schädigenden Ereignisse entsteht. Schädigende Ereignisse im Sinne des § 1 Abs. 2 SGB XIV sind

Für hierauf beruhende gesundheitliche Schäden konnten auch bisher schon Entschädigungsansprüche geltend gemacht werden. Allerdings fanden sich die Anspruchsgrundlagen in verschiedenen Gesetzen – z. B. dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), dem Zivildienstgesetz (ZDG) oder dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) – mit zum Teil nicht einheitlichen Regelungsansätzen und immer unter Verweis auf die Regeln des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).

Antiquierte Regelungen des Bundesversorgungsgesetzes

Das BVG  war im Prinzip das „Grundgesetz des Sozialen Entschädigungsrechts“. Die Regelungen des BVG waren jedoch nicht auf die zuvor benannten „zivilen“ Schäden ausgerichtet, sondern auf die Versorgung der Opfer des Krieges, sprich insbesondere des 2. Weltkrieges. Das 1950 in Kraft getretene BVG sollte Soldaten und Hinterbliebene, aber auch Personen, die durch militärähnlichen Dienst oder unmittelbare Kriegseinwirkungen – wie etwa Flucht, Internierung, Bombenkrieg, Verschleppung oder Umsiedlung – eine gesundheitliche Entschädigung erlitten hatten, „versorgen“. Dies war ein gewichtiges sozialpolitisches Ziel in der jungen deutschen Republik. Denn es galt eine zügige gesellschaftliche Integration dieser heterogenen Personengruppen zu ermöglichen.

So anders die damaligen Ziele waren, so anders oder aus heutiger Sicht „altmodisch“ waren bis in die Gegenwart hinein die gesetzlich normierte Herangehensweise an und der Umgang mit den erlittenen Schädigungsfolgen. Entsprechend dem Zeitgeist der 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts war das BVG nicht auf die zeitgerechte und erforderliche Behandlung sowie Entschädigung etwa psychischer Schädigungsfolgen zugeschnitten. Ein Teil des Leistungskatalogs, insbesondere im Bereich der Rehabilitation, ließ trotz des großzügigen Leistungsumfangs nicht alle heute als notwendig erkannten Maßnahmen zu oder bot eher antiquiert anmutende Leistungen, wie etwa Badekuren an. Leistungen für die Hinterbliebenen nach §§ 40 ff. BVG waren geprägt von dem Leitbild der „Alleinverdienerehe“, in der der „Versorger“ durch die Kriegsfolgen oder zumindest ein Teil des von ihm erzielbaren Entgelts ausgefallen war.

Auch das OEG des Jahres 1976 hat in der praktischen Anwendung immer wieder Lücken sichtbar werden lassen. Zu nennen sind hier nur der mit dem BVG gleichlaufende Umgang mit psychischen Folgen eines schädigenden Ereignisses und die mit psychischen Mitteln oder einem Kraftfahrzeug bewirkte Tat. Kritisiert wurde auch die mangelnde Opferfreundlichkeit der Ausgestaltung des Leistungssystems, die Retraumatisierung durch das Verwaltungsverfahren, die Undurchsichtigkeit der Kausalitätserwägungen und eine restriktive Bewilligungspraxis, aufbauend auf dem vorgefundenen Normgefüge.

Die Idee: Versorgungsansprüche und Verfahrensregeln zusammenfassen

Die in den unterschiedlichen Gesetzen normierten Versorgungsansprüche sollten – so die politische Idee – mit den sich im Laufe der Jahrzehnte herauskristallisierten Verfahrensregeln und Grundsätzen der Sozialen Entschädigung in einem Buch, integriert in das Sozialgesetzbuch, zusammengefasst werden.

Seit 2013 wurde darüber diskutiert und politisch beraten. Die Vorschläge zur Ausgestaltung des neuen Rechts wurden dabei immer wieder durch Ereignisse beeinflusst, die unser Land zum Teil tief erschüttert haben. Zu nennen sind hier etwa die Erkenntnisse aus den runden Tischen „Heimerziehung“ und „Sexueller Kindesmissbrauch“, aber auch der terroristische Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016, als ein Sattelzug gezielt in eine Menschenmenge steuerte.

Einig waren sich alle an der Diskussion Beteiligten, dass das neue Soziale Entschädigungsrecht den in § 5 SGB I formulierten Ansprüchen gerecht werden sollte. Danach hat derjenige, der einen Gesundheitsschaden erleidet, für dessen Folgen die staatliche Gemeinschaft in Abgeltung eines besonderen Opfers oder aus anderen Gründen nach Grundsätzen des Sozialen Entschädigungsrechts einsteht, ein Recht auf die notwendigen Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung seiner Gesundheit und Leistungsfähigkeit und auf angemessene wirtschaftliche Versorgung.

Der Gesetzgebungsprozess

Ursprünglich sollte das Soziale Entschädigungsrecht in einem 13. Sozialgesetzbuch geregelt werden. Das wäre auch konsequent gewesen, denn das SGB XII (Sozialhilfe) war bisher das letzte Buch im Sozialgesetzbuch. Ein erster vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im Frühjahr 2017 vorgelegter Entwurf eines SGB XIII hielt aber der „Verbändekritik“ nicht Stand. Er wurde in vielfacher Hinsicht als untauglich zur Bewältigung der eingangs benannten Problemfelder befunden. So erfüllten die neuen Regeln nach Meinung einer Vielzahl der Organisationen, die von Gewalt betroffene Menschen vertreten, nicht die notwendigen Standards für „Schnelle Hilfe“ und eine Entbürokratisierung des Verwaltungsverfahrens.

Andere forderten einen Erhalt des im BVG angelegten – und zum Teil weit über den sonstigen Leistungsumfang im Sozialrecht (etwa der gesetzlichen Sozialversicherung) hinausgehenden – Leistungskatalogs. Gerade der geplante Rückgriff auf Leistungen der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung schürte Befürchtungen, dass das neue Recht mit einem Abbau an Leistungsansprüchen einhergehen könnte. Im BVG und nach allen Gesetzen, die auf dieses verwiesen (s. die oben genannten, aber auch z. B. das Häftlingshilfegesetz, das Gesetz über die Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mit dem Hepatitis-C-Virus infizierte Personen oder die Gesetze zur straf- oder verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung sowie bisher das Soldatenversorgungsrecht) ging der Katalog etwa der Leistungen der Heilbehandlung weit über den des SGB V hinaus. Hier sei nur der „Zahnersatz“ erwähnt.

Umstritten war auch die Überführung von Ansprüchen nach dem BVG oder z. B. dem OEG in das neue Recht. Sollte es Abschlussgesetze geben oder eine sogenannte „integrierte“ Lösung, mit Besitzstandsregeln und einem Wahlrecht? Die Verbände der Kriegsopfer forderten einen umfassenden Besitzschutz. Damit war das Problem jedoch nicht gelöst. Denn es musste eine gesetzliche Regelung auch für die Zukunft gefunden werden, etwa für den Fall von Veränderungen an den Schädigungsfolgen gegenüber dem anerkannten Zustand nach altem Recht, also einer Verschlimmerung des Leidens.

Der im Oktober 2019 dann vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts (BT-Drs. 19/13824), dessen Art. 1 das nun in Kraft befindliche SGB XIV und nicht wie ursprünglich geplant, SGB XIII umfasst, hat viele der oben erwähnten Kritikpunkte aufgegriffen und bot Lösungen an. Gleichwohl ist er in den folgenden Monaten nochmals einer intensiven Diskussion unterzogen worden. Es kam vor dem Gesetzesbeschluss noch zu zahlreichen Änderungen am Entwurf. In der letzten Phase des Gesetzgebungsprozesses standen im Mittelpunkt der Diskussionen insbesondere

Einführung mit Übergangsfristen

Im November 2019 wurde das neue Gesetzbuch schließlich von Bundestag und Bundesrat verabschiedet und am 12. Dezember 2019 wurden die neuen Regelungen zum Sozialen Entschädigungsrecht im Bundesgesetzblatt verkündet.

Wichtig war den Entwurfsgebern, eine Übergangsfrist bis zum Inkrafttreten des neuen Rechts einzuräumen. In dieser sollten die für neue Leistungen erforderliche Infrastruktur auf- und ausgebaut und die Verordnungen, für die das neue Recht Ermächtigungsgrundlagen vorsieht, erarbeitet werden.

Zum Teil wurde jedoch auch die Notwendigkeit einer unmittelbaren Umsetzung erkannt, wie z. B. bei der Gleichstellung von Ausländerinnen und Ausländern mit Inländerinnen und Inländern, bei einem Angriff mittels eines Kraftfahrzeugs oder dem Angebot „Schneller Hilfen“ auch für Angehörige oder Nahestehende von Geschädigten, also Opfern von Gewalttaten.

Insoweit ist das OEG im Vorgriff auf die neuen Vorschriften des SGB XIV vor dem 1. Januar 2024 geändert worden. Gesetzestechnisch sind die Änderungen in insgesamt 60 Artikeln des Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts (G-SER) normiert worden. Das SGB XIV, als dessen Art. 1, ist zwar die zentrale Neuregelung. Aber in 59 weiteren Artikeln sind Anpassungen anderer Gesetze vorgenommen worden, wie etwa in den Prozessordnungen, im Sozialverwaltungsverfahrensrecht oder zahlreichen anderen Leistungsgesetzen. Nach Art. 60 des G-SER sind diese Regelungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Kraft getreten, zum Teil rückwirkend zum 1. Juli 2018 bis zum Endpunkt am 1. Januar 2024. Zuletzt wurden durch das Gesetz zur Anpassung des Zwölften und des Vierzehnten Buches Sozialgesetzbuch und weiterer Gesetze noch Änderungen und Klarstellungen im neuen SGB XIV und weiteren Regelungen zur Sozialen Entschädigung vorgenommen.

Mit dem Inkrafttreten des SGB XIV am Anfang dieses Jahres sind das Bundesversorgungsgesetz, das Opferentschädigungsgesetz, die §§ 60 bis 64 des Infektionsschutzgesetzes, die §§ 47, 47b des Zivildienstgesetzes und weitere Bestimmungen des bisherigen Rechts zur Sozialen Entschädigung aufgehoben worden (s. u. a. Art. 58 des Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts).

 

Sabine Knickrehm

Vorsitzende Richterin am Bundessozialgericht