Arbeitsschutz im Homeoffice:
Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts

von Bertold Brücher und Hans Nakielski | Januar 2021

Befassen sich Sozialgerichte mit dem Thema „Homeoffice“, gilt der Blick dem Unfallversicherungsrecht. Was ist, wenn Beschäftigte im Homeoffice zu Hause einen Unfall erleiden? Wann stehen sie dann unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung? Die Rechtsprechung hat dazu – nicht unumstrittene – Wege gefunden, um dies zu beurteilen. Dabei zeigt sich: Nach wie vor gibt es beim Unfallversicherungsschutz Benachteiligungen bei der Arbeit im Homeoffice gegenüber der Arbeit im Betrieb.

Andere Bereiche des Sozialrechts kennen keinen Unterschied darin, ob die aufgrund des Arbeitsvertrags geschuldete Arbeitsleistung im Betrieb, in der Verwaltung oder eben zu Hause verrichtet wird. Im Rahmen des Homeoffice verliert das häusliche Umfeld teilweise seinen privaten Charakter – denn die Wohnung wird auch beruflich genutzt. Ein dann „zu Hause“ erlittener Unfallhergang stellt sich entweder als ein nicht versichertes Geschehen dar, weil es sich im Rahmen der normalen Haushalt- oder Lebensführung ereignet, oder als versicherter Arbeitsunfall, wenn es im Zusammenhang mit der betrieblichen Verrichtung zum Unfall gekommen ist.

Die Abgrenzungsprobleme sind evident: Ist zu prüfen, ob ein Arbeitsunfall in privaten Wohnräumen vorliegt, steht die Handlungstendenz der versicherten Person zum Unfallzeitpunkt im Vordergrund (subjektive Komponente). Zudem ist zu klären, ob sich diese Handlungstendenz anhand der konkreten Umstände im Einzelfall objektiv nachweisen lässt.

Unfallorte und Handlungstendenzen im Blickfeld

Klassische Unfälle wie beispielsweise das Stolpern über eine Türschwelle, das Abrutschen von einer Treppenstufe oder das Stoßen an einer Tischkante ereignen sich sowohl im häuslichen Bereich wie im betrieblichen Umfeld. Und statistisch betrachtet passieren die meisten Unfälle im Haushalt.

Das Bundessozialgericht (BSG) hatte einen praxisorientierten und auch für manche nachvollziehbaren Weg gefunden, wie mit Unfällen in Räumen oder auf Treppen im Homeoffice-Bereich umzugehen ist. Es stellte insbesondere darauf ab, an welcher Stelle der Unfall geschah (wird diese mehr privat oder beruflich genutzt?) und mit welcher Handlungstendenz die Tätigkeit, die zum Unfall führte, ausgeübt wurde (überwiegend privat oder beruflich?).

Dabei ist unstrittig: Tätigkeiten im Haus, in dem sich das Homeoffice befindet, sind durchaus versichert, wenn sie eindeutig der Arbeit zugeordnet werden können. So besteht etwa ein Versicherungsschutz, wenn ein Homeoffice-Beschäftigter im Arbeitszimmer über ein schlecht verlegtes Kabel zwischen Drucker und PC stolpert oder wenn er zur Haustür geht, um dort ein Paket von seinem Arbeitgeber entgegenzunehmen und dabei hinfällt.

Umstritten ist aber oft, ob die jeweilige Tätigkeit im Homeoffice, die zum Unfall führte, privat oder beruflich begründet war. So etwa bei einem „Sturz beim Wasserholen“, über den das BSG am 5. Juli 2016 (Az.: B 2 U 5/15 R) entschied: Eine an Asthma und COPD (chronisch fortschreitende Erkrankung der Lunge) leidende Beschäftigte hatte ihren Telearbeitsplatz im Arbeitszimmer im Dachgeschoss ihres eigenen Hauses. In diesem Dachgeschoss befand sich auch noch das Arbeitszimmer ihres Ehemannes, ein Bad und ein Schlafraum. Wegen ihrer Erkrankung musste die Frau viel trinken. Als die Wasserflaschen, die sie sich an ihren Arbeitsplatz mitgenommen hatte, leer waren, verließ sie ihren Arbeitsplatz, um sich in der Küche im Erdgeschoss Wasser zu holen. Dabei stürzte sie auf der Treppe. Die beklagte Unfallkasse – und später auch das BSG – erkannten den Unfall nicht als Arbeitsunfall an. „Ihre Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses – das Hinabsteigen der Treppe – stand nicht in einem sachlichen Zusammenhang zur versicherten Tätigkeit“, urteilte das BSG. Die Klägerin habe sich zum Unfallzeitpunkt nicht auf einem „Betriebsweg“ befunden. Den Weg zur Küche habe sie nicht in „unmittelbaren betrieblichen, sondern in eigenwirtschaftlichem Interesse zurückgelegt“. Sie sei „auf dem Weg von der Arbeitsstätte zur Küche und damit in den persönlichen Lebensbereich ausgerutscht“.

Wäre der gleiche Unfall im Unternehmen geschehen, wäre ein Arbeitsunfall anerkannt worden. Denn hier sind „Wege mit der Handlungstendenz, sich an einem vom Ort der Tätigkeit verschiedenen Ort Nahrungsmittel zu besorgen oder einzunehmen, […] nach der ständigen Rechtsprechung des Senats grundsätzlich versichert“, schreibt das BSG selbst in seinem Urteil.

In einer späteren Entscheidung vom 27. November 2018 (Az.: B 2 U 8/17 R) hatte der Zweite Senat des BSG angedeutet, dass schon zuvor innerhalb des Senats Zweifel daran bestanden haben, ob an der Rechtsprechung, die zur Feststellung eines versicherten Betriebswegs im häuslichen Bereich auf das Ausmaß der Nutzung des konkreten Unfallorts abgestellt hatte, festgehalten werden könne.

„Objektivierte Handlungstendenz“ zählt jetzt

Nunmehr wird nicht mehr an die Häufigkeit der betrieblichen oder privaten Nutzung des konkreten Unfallorts angeknüpft – gleichsam einer wie auch immer gearteten objektiven „Widmung“ der jeweiligen Räumlichkeiten oder der Messung der Häufigkeit der „betrieblichen“ Nutzung des konkreten Unfallortes. Entscheidend ist jetzt bei der Feststellung eines Arbeitsunfalls im häuslichen Bereich allein die „objektivierte Handlungstendenz“ der versicherten Person, eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit ausüben zu wollen.

Im Fall, über den am 27. November 2018 entscheiden worden war, ging es um einen Versicherungsmakler, dessen – auch für Kunden zugänglichen – Geschäftsräume sich im 1. Obergeschoss und dessen Serveranlage und Archiv sich im Keller befanden. Er selbst wohnte im 5. Obergeschoss. Auf einem Weg vom Serverraum im Kellergeschoss zum Büro im 1. OG stürzte er nachts gegen 1:30 Uhr auf der Haustreppe und zog sich eine Kahnbeinfraktur zu. Dabei gab er an, dies sei geschehen, als er ein umfangreiches Update der Software veranlasst hatte. Das Sozialgericht und das Landessozialgericht hatten Entschädigungsleistungen aus der Unfallversicherung mit der Begründung abgewiesen, dass die Treppe als Ort des Sturzes nicht eindeutig der beruflichen Nutzung diene, sondern auch dem privaten Lebensbereich zuzuordnen sei. Das BSG urteilte stattdessen: Darauf komme es nicht an. Maßgeblich sei, ob die objektiven Umstände des Sturzes die Angabe des Maklers bestätigen, er habe die Treppe mitten in der Nacht genutzt, um in die Büroräume im 1. OG zu kommen, um von dort aus das Softwareupdate zu überwachen.

Demnach setzt – geradezu klassisch und nicht beeinträchtigt von der „Widmung“ des Unfallorts – ein Arbeitsunfall voraus, dass die oder der Verletzte durch eine Verrichtung während des fraglichen Unfallereignisses den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb unter den gesetzlichen Unfallversicherungsschutz fällt. Diese versicherte Verrichtung muss zu einem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis geführt und dieses Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod der versicherten Person verursacht haben.

Ungleiche Bewertung der Unfallgeschehen

So egalitär diese relativ neue Rechtsprechung zur Behandlung von Unfällen während Verrichtung der versicherten Tätigkeit – egal, ob im Betrieb oder zu Hause erlitten – ist, so ungleich ist immer noch die Bewertung von Unfallgeschehen in Anwendung des § 8 Abs. 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch VII – je nachdem, ob die Verrichtung der dem Unternehmen dienenden Tätigkeit im Betrieb oder zu Hause stattfindet.

Das zeigt sich auch bei einem Urteil des BSG vom 30. Januar 2020 (Az.: B 2 U 19/18 R) zu einem Unfall einer im Homeoffice tätigen Mutter, die ihr Kind mit dem Fahrrad zum Kindergarten brachte. Auf dem Weg zurück zum häuslichen Arbeitsplatz stürzte sie vom Fahrrad und brach sich das Ellenbogengelenk.

Normalerweise sind Wege zwischen der Wohnung und dem Betrieb auch dann versichert, wenn dabei ein Umweg gemacht wird, um Kinder in eine Einrichtung zur Kinderbetreuung zu bringen. Das regelt ausdrücklich § 8 Abs. 2 SGB VII.  Doch hier erkannte weder die Berufsgenossenschaft noch das Bundessozialgericht an, dass es sich um einen versicherten Weg gehandelt habe. Die Arbeitnehmerin habe ihren Unfall weder auf einem nach § 8 Abs. 1 SGB VII versicherten Betriebsweg noch auf einem Weg nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII erlitten.

Es lässt sich zwar nicht verkennen, dass der hier zu berücksichtigende Unfall nicht auf einem „Betriebsweg“ geschah. Er soll aber auch nicht geschehen sein

Letzteres kann nur angenommen werden, wenn davon ausgegangen wird, dass der Ort des privaten Aufenthalts und der der versicherten Tätigkeit, zwischen denen der Weg zurückgelegt wird, räumlich auseinanderfallen müssen. Das ist aber im Homeoffice nicht der Fall. Das BSG geht deshalb davon aus: Fallen Wohnung und Arbeitsplatz räumlich zusammen, gibt es keinen „Weg“ zwischen beiden. Folglich könne dann auch kein Arbeitsunfall (hier: Wegeunfall) vorliegen.

Wird hingegen streng der „objektivierten Handlungstendenz“ gefolgt, ließe sich die hier sichtbare Lücke konsequent schließen. Gleichwohl skizziert das BSG selbst den weiteren Weg: Für den Fall der Arbeit in einem Homeoffice müsste eine Versicherung des Wegs zu einer Kinderbetreuung „vom Senat im Wege der Rechtsfortbildung oder Analogie erst begründet werden“. Eine solche Erweiterung des Versicherungsschutzes ist nach der Überzeugung des Senats aber mit den Methoden richterlicher Rechtsfortbildung nicht möglich. Sie obliege dem sozialpolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers.

Gesetzesänderung erforderlich

Nicht versichert sein werden bei der derzeitigen Gesetzeslage weiterhin alle Wege im Haus im Zusammenhang mit privat geprägten Tätigkeiten – und zwar unabhängig davon, ob sie mittelbar mit der im Homeoffice zu erledigenden Arbeit im Zusammenhang stehen. Der Gang zur Toilette oder in die Küche im Homeoffice untersteht damit keinem Unfallversicherungsschutz. Im Unterschied dazu besteht im Betrieb auf dem Weg zur Toilette oder zur Teeküche sehr wohl ein Versicherungsschutz.

Die Gründe für die Ungleichbehandlung werden unter anderem in der fehlenden Möglichkeit der Unfallversicherungsträger gesehen, präventiv in der Wohnung eines Beschäftigten im Homeoffice tätig zu werden.

Die Notwendigkeit, den Weg vom Homeoffice zur Kinderbetreuungsstätte und zurück einem Versicherungsschutz zu unterstellen, ist offenkundig, will man eine Gleichsetzung von „Arbeiten im Betrieb“ und „Arbeiten im Homeoffice“ erreichen.

Es wird deshalb Zeit, dass der Gesetzgeber endlich den Unfallversicherungsschutz im Homeoffice verbessert. Ein entscheidender Schritt dazu könnte nun mit dem geplanten Mobile Arbeit-Gesetz  gemacht werden.

Bertold Brücher

ist Referatsleiter Sozialrecht beim DGB-Bundesvorstand

Hans Nakielski

ist Dipl.-Volkswirt und Fachjournalist für Arbeit und Soziales in Köln