von Hans Nakielski | Dezember 2020
Fast 25 Jahre nach der Verabschiedung der revidierten Europäischen Sozialcharta (RevESC) hat Deutschland das Vertragswerk endlich ratifiziert. Doch längst nicht alle 31 in der Charta verankerten sozialen Grundrechte werden von der Bundesrepublik voll anerkannt. Hier folgt ein Blick auf die Bestimmungen, an die sich Deutschland nicht gebunden fühlt.
Schon bei der ursprünglichen Europäischen Sozialcharta (ESC), auf die sich die damaligen Mitgliedsstaaten des Europarates im Oktober 1961 in Turin verständigt hatten, hatte die Bundesrepublik Deutschland Vorbehalte angemeldet. Im Gesetz zur Europäischen Sozialcharta vom 19. September 1964, mit dem damals die Ratifizierung der Charta erfolgte, erkannte die Bundesrepublik bei vier von damals insgesamt 19 sozialen Grundrechten der Sozialcharta einzelne Bestimmungen (Absätze in den jeweiligen Artikeln) nicht an. Dies betraf
- das Recht aller Arbeitnehmer auf eine angemessene Kündigungsfrist,
- das Mindestalter „für die Zulassung zu einer Beschäftigung auf 15 Jahre festzusetzen, vorbehaltlich von Ausnahmen für Kinder, die mit bestimmten leichten Arbeiten beschäftigt werden, welche weder ihre Gesundheit noch ihre Moral oder Erziehung gefährden“,
- das Verbot, einer Frau während der Abwesenheit infolge des Mutterschaftsurlaubs so zu kündigen, dass die Kündigungsfrist während einer solchen Abwesenheit abläuft,
- die Regelung der Nachtarbeit von Arbeitnehmerinnen in gewerblichen Betrieben,
- das Verbot von Untertagearbeit für Arbeitnehmerinnen in Bergwerken sowie die Untersagung von sonstigen Arbeiten, die für sie „infolge ihrer gefährlichen, gesundheitsschädlichen oder beschwerlichen Art ungeeignet sind“,
- durch geeignete Maßnahmen anzuregen, dass für die berufliche Ausbildung
- alle Gebühren herabgesetzt oder abgeschafft werden,
- die Zeiten, die Arbeitnehmer während der Beschäftigung auf Verlangen des Arbeitgebers für den Besuch von Fortbildungslehrgängen verwenden, auf die normale Arbeitszeit angerechnet werden,
- „durch geeignete Überwachung die Wirksamkeit des Systems der Lehrlingsausbildung“ für jugendliche Arbeitnehmer sowie deren ausreichender Schutz gewährleistet wird – „und zwar in Beratung mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen“.
Die entsprechenden Bestimmungen aus der ESC traten damit in Deutschland nicht in Kraft.
Auch bei der nun endlich von Deutschland ratifizierten Fassung der revidierten Europäischen Sozialcharta (RevESC) gelten einzelne Bestimmungen in Deutschland nicht. Insgesamt betrifft dies immerhin acht von 31 sozialen Grundrechten, bei denen Deutschland ganz oder teilweise Vorbehalte angebracht hat. Die wohl wichtigsten Vorbehalte beziehen sich auf die neu in der RevESC verankerten Rechte auf
- Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung (Artikel 30): Dabei verpflichten sich die Vertragsparteien, Maßnahmen zu ergreifen, um für Personen, die in sozialer Ausgrenzung oder Armut leben oder Gefahr laufen, in eine solche Lage zu geraten, den tatsächlichen Zugang insbesondere zur Beschäftigung, zu Wohnraum, zur Ausbildung und zum Unterricht zur Kultur und Fürsorge zu fördern und auf ihre Anpassung zu überprüfen.
- Das Recht auf Wohnung (Artikel 31): Dabei verpflichten sich die Vertragsparteien, „Maßnahmen zu ergreifen, die darauf gerichtet sind
1. den Zugang zu Wohnraum mit ausreichendem Standard zu fördern;
2. der Obdachlosigkeit vorzubeugen und sie mit dem Ziel der schrittweisen Beseitigung abzubauen;
3. die Wohnkosten für Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, so zu gestalten, dass sie tragbar sind.“
Ausführlich über die Hintergründe für die deutschen Vorbehalte gegen diese sozialen Grundrechte wird im ersten Beitrag dieses Thema des Monats berichtet.
Zu weiteren sechs Artikeln der revidierten ESC hat Deutschland ebenfalls (teilweise) Vorbehalte angebracht. Die gilt sowohl für Regelungen, die schon in der ursprünglichen ESC von der Bundesrepublik nicht anerkannt worden waren, als auch für neue soziale Grundrechte, die erst in der RevESC verankert worden waren. Im Einzelnen betrifft dies:
- „Das Recht aller Arbeitnehmer auf eine angemessene Kündigungsfrist im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses anzuerkennen“ (Art. 4 Abs. 4).
- „Das Mindestalter für die Zulassung zu einer Beschäftigung auf 15 Jahre festzusetzen, vorbehaltlich von Ausnahmen für Kinder, die mit bestimmten leichten Arbeiten beschäftigt werden, welche weder ihre Gesundheit noch ihre Erziehung gefährden“ (Art. 7 Abs. 1).
- Durch geeignete Maßnahmen anzuregen, dass bei beruflicher Bildung
- „alle Gebühren und Kosten herabgesetzt oder abgeschafft werden;
- in geeigneten Fällen finanzielle Hilfe gewährt wird;
- die Zeiten, die der Arbeitnehmer während der Beschäftigung auf Verlangen seines Arbeitgebers für den Besuch von Fortbildungslehrgängen verwendet, auf die normale Arbeitszeit angerechnet werden;
- durch geeignete Überwachung die Wirksamkeit des Systems der Lehrlingsausbildung und jedes anderen Ausbildungssystems für jugendliche Arbeitnehmer sowie ganz allgemein deren ausreichender Schutz gewährleistet wird, und zwar in Beratung mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen“ (Art. 10 Abs. 5).
- Das Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung und Anhörung im Unternehmen: Danach soll regelmäßig oder zu gegebener Zeit in verständlicher Weise über die wirtschaftliche und finanzielle Lage des beschäftigenden Unternehmens berichtet werden, „mit der Maßgabe, dass die Erteilung bestimmter Auskünfte, die für das Unternehmen nachteilig sein könnte, verweigert […] werden kann“. Außerdem sollen Arbeitnehmer rechtzeitig zu beabsichtigten Entscheidungen gehört werden – insbesondere, wenn sie wesentliche Auswirkungen auf die Beschäftigungslage haben (Art. 21).
- Das Recht auf Beteiligung an der Festlegung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsumwelt: Danach sollen Maßnahmen ergriffen werden, die es den Arbeitnehmern oder ihren Vertretern ermöglichen, „einen Beitrag zu leisten
- zur Festlegung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen, der Arbeitsorganisation und der Arbeitsumwelt;
- zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit im Unternehmen;
- zur Schaffung sozialer und soziokultureller Dienste und Einrichtungen des Unternehmens;
- zur Überwachung der Einhaltung der einschlägigen Vorschriften“ (Art. 22).
- Das Recht auf Schutz bei Kündigung: Danach sollen Arbeitnehmer das Recht haben, „nicht ohne einen triftigen Grund“ gekündigt zu werden, „der mit der Fähigkeit oder ihrem Verhalten zusammenhängt oder auf den Erfordernissen der Tätigkeit des Unternehmens, des Betriebs oder des Dienstes beruht“. Ohne triftigen Grund gekündigte Arbeitnehmer sollen das Recht „auf eine angemessene Entschädigung oder einen anderen zweckmäßigen Ausgleich“ haben. Arbeitnehmer, die der Auffassung sind, ohne triftigen Grund gekündigt worden zu sein, sollen das Recht haben, „die Kündigung bei einer unparteiischen Stelle anzufechten“ (Art. 24).
Sämtliche oben genannte Bestimmungen gelten in Deutschland nicht. Damit kann sich auch niemand vor Gericht auf diese Regelungen der RevESC berufen. Im Gegensatz zur Europäischen Menschenrechtskonvention können allerdings Einzelpersonen bei Verstößen gegen die Europäische Sozialcharta nicht vor europäischen Gerichten klagen. Es gibt deshalb Forderungen, die Sozialcharta rechtlich der Menschenrechtskonvention gleichzustellen.
Da es im Rahmen der Sozialcharta (bisher) keine unmittelbare gerichtliche Durchsetzungsmöglichkeit gibt, sind in einem „Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta über Kollektivbeschwerden“ neue Verfahrensrechte festgelegt worden. Darin wurden Beschwerdemöglichkeiten eingeführt, die zu einer Überprüfung von Problemen kollektiven Charakters führen können.
Mehrere Vertragsstaaten haben dieses Protokoll inzwischen ratifiziert. Deutschland gehört bisher nicht dazu. Die Fraktion der Linken hatte bei der Beratung des Gesetzes zur Revision der Europäischen Sozialcharta beantragt, dass auch Deutschland nun dieses Protokoll unterzeichnen solle („Kollektivbeschwerden zur besseren Überwachung der Europäischen Sozialcharta ermöglichen – Zusatzprotokoll unterzeichnen und ratifizieren“ – BT-Drs. 19/22124).
Die Regierungskoalition hat diesen Antrag mit den Stimmen von AfD und FDP – und gegen die Stimmen der Grünen und Linken – abgelehnt (s. BT-Drs. 19/23182, S. 4).